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Dunkle Ecken
Shelby Meyers’ elfenbeinfarbenes Kleid berührte leicht den Fußboden der Scheune; eine dünne Staubschicht hatte sich auf den empfindlichen Saum gelegt. Sie lehnte in dem breiten, offen stehenden Tor und spähte hinaus in den Obstgarten ihrer Großeltern. Die versammelten Familienmitglieder und guten Freunde ließen sich gerade auf weißen Gartenstühlen nieder, die in Reihen auf dem Rasen vor einer Gartenlaube und vor weiten Feldern voller blühender Apfelbäume standen. Wie Schneeflocken taumelten rosa-weiße Blüten im leichten Wind, landeten sanft auf dem Gras und milderten so die fast greifbare Spannung, die zwischen den beiden Familien bestand.
Shelby spürte, wie ihre Großmutter sie sanft an der Schulter berührte, um sie aus dem Tor ins Innere der Scheune zu locken.
»Nun komm schon herein. Hab ich dir nicht gesagt, dass es Unglück bringt, den Bräutigam vor der Hochzeit zu sehen?«
»Du weißt aber schon, dass das nur ein alter Aberglaube ist, oder?«, fragte Shelby. Dennoch trat sie einen Schritt zurück und begann, gedankenverloren mit dem Daumen ihrer rechten Hand über den zierlichen Verlobungsring zu streichen, in dessen Fassung ein funkelnder runder Stein saß, der von einem Kranz kleinerer Diamanten umgeben war.
»Die Trauung hat noch nicht einmal begonnen, und schon jetzt ist dieser Tag schöner, als ich es mir jemals erträumt hätte«, sagte Ginny Meyers. »Ich freue mich so für dich, Liebes. Und vergiss nicht: ganz ruhig bleiben und tief durchatmen. Nimm alles in dich auf. An diesen Augenblick wirst du dich dein Leben lang erinnern.«
Shelby lächelte ihre Großmutter an. Sie war stolz darauf, eine so starke, liebenswürdige Frau an ihrer Seite zu haben. Dank der Großzügigkeit ihres Verlobten, Ryan Chambers, trug ihre Großmutter Perlen und ein Kleid aus Paris, das ihr aus silbergrauer Rohseide perfekt auf den zierlichen Leib geschneidert worden war. Andererseits hatte Shelby ohnehin schon immer eine elegante Dame in ihr gesehen, sogar, wenn Weizenmehl ihre Wange bestäubte und gestreifte Socken unter den Aufschlägen ihrer Jeans hervorlugten.
»Ich kann einfach nicht fassen, wie herausgeputzt diese alte Scheune aussieht«, sagte Ginny. »Es sieht unglaublich aus. Charlotte hat wirklich zu viel des Guten getan, aber ich bin natürlich die Erste, die zugibt, dass ihr all das verdient habt, Liebes.«
»Danke, Gran. Ich kann gar nicht glauben, dass es heute so weit ist«, sagte sie, überglücklich, Ryan an dem Ort zu heiraten, den sie mehr liebte als jeden anderen auf der Welt.
Der Obstgarten ihrer Familie, der sich oberhalb der Uferklippen von Bayfield, Wisconsin, erstreckte, war in etwas Magisches verwandelt worden. Ryans Mutter Charlotte hatte von ihrem Hochhausapartment in Chicago aus den größten Teil der Hochzeitsplanungen übernommen. Während manch andere Braut vielleicht das Gefühl gehabt hätte, dass Charlotte ihre Grenzen überschritt, war Shelby erleichtert, ihr die Einzelheiten überlassen zu können. Seitdem sie im Sommer zuvor nach Chicago gezogen war, war sie vollauf damit beschäftigt gewesen, ihre erste eigene Wohnung einzurichten und ans College zurückzukehren, um dort einige Kurse nachzuholen. Sie musste sich erst noch an Ryans Leben unter den Augen der