: Olivier David
: Von der namenlosen Menge über Klasse, Wut& Einsamkeit
: Haymon
: 9783709984215
: 1
: CHF 16.10
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 180
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
DIE VERMESSUNG SOZIALER WAHRSCHEINLICHKEITEN DAS ARCHIV MEINER SOZIALEN WUT Geschichten von der UNTEREN KLASSE, Literatur über SOZIALE HERKUNFT - meist sind das Erzählungen von AUFBRUCH und AUFSTIEG. Olivier Davids Essays kreisen um diejenigen, die UNTEN GEBLIEBEN sind. Die, mit den SCHMERZENDEN KÖRPERN, die NACHTARBEITENDEN, die VERGESSENEN - und um ihn SELBST. Wie fühlt es sich an, MIT DEM EIGENEN KÖRPER und der eigenen GESUNDHEIT den WOHLSTAND HÖHERER KLASSEN zu bezahlen? Was bedeutet es, unten zu bleiben, damit die oberen ihren STATUS, ihre MACHT, ihre PRIVILEGIEN behalten können? Wie selbstbestimmt kann die Entscheidung, allein zu bleiben sein, wenn soziale Beziehungen durch VEREINZELUNG, GELDMANGEL und EINGESCHRÄNKTE TEILHABE unter Druck stehen? Wie soll Geschichte weitergegeben werden, wenn es KEIN KOLLEKTIVES GEDÄCHTNIS ARMER MENSCHEN gibt? 'ES GEHT HIER NICHT UM DIE KULTURALISIERUNG VON ARMUT, NACH DEM MOTTO: SO SIND SIE, DIE ARMEN. ES GEHT UM DAS AUFZEIGEN VON LEBENSREALITÄTEN ALS KAUSALKETTEN.' Olivier David beschäftigt sich anhand von BEOBACHTUNGEN und ERFAHRUNGEN mit dem EINFLUSS VON KLASSE auf sein Leben - und die Leben derer, die er SEINE LEUTE nennt. In SPRACHGEWALTIGEN, INTIMEN, WÜTENDEN und dabei EINFÜHLSAMEN ESSAYS schreibt er über INNERE MIGRATOIN, vom FREMDSEIN und einer blauen ANGST. Und er ringt zugleich um eine ERZÄHLWEISE, die den GESCHICHTEN VON UNTEN gerecht wird. 'Von der namenlosen Menge' ist ein Versuch, sich selbst in die Welt einzuschreiben, denn: 'Für gewöhnlich liest UNSEREINS nicht vor Publikum aus Büchern, unsereins trägt SICHERHEITSSCHUHE beim Arbeiten, hat KOPFHÖRER auf den Ohren gegen den Lärm, hat SCHMERZEN irgendwo, LEHNT, wo er kann, GÄHNT, so oft es geht ...'

OLIVIER DAVID, 1988 in Hamburg-Altona geboren, ist Schriftsteller und Kolumnist. Nach der Schule arbeitete er mehrere Jahre in einem Supermarkt, bevor er eine Schauspielausbildung begann. Olivier David jobbte als Kellner, Malerhelfer und Lagerarbeiter, nebenbei spielte er Theaterstücke für Kinder. Mit dreißig gelang ihm der Quereinstieg in den Journalismus. 2022 erschien sein erstes Buch 'Keine Aufstiegsgeschichte - Warum Armut psychisch krank macht'. Für die Tageszeitung 'nd' schreibt Olivier David die Kolumne 'Klassentreffen', für das Schweizer Magazin 'Das Lamm' die Kolumne 'David gegen Goliath'.

1. Innere Migration


In ihrer sozialen Identität, in ihrem Selbstbild zutiefst infrage gestellt durch ein Schulsystem und eine Gesellschaft, von diesen mit leeren Worten abgespeist, bleibt ihnen zur Wiederherstellung ihrer persönlichen und sozialen Integrität kein anderer Ausweg, als jenen Verdikten ihre globale Verweigerung entgegenzusetzen.

Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede

Ein später Nachmittag am letzten Tag des alten Jahrtausends. Um dem Gefühl des Alleinseins zu entfliehen, schnüre ich meine Schuhe, ich rufe meiner Mutter ein paar Worte zu und verlasse die Wohnung. Raus aus dem Haus, vorbei an dem Fenster meines ghanaischen Nachbarn, aus dem Gelächter und Musik dringt, durch das Tor, das verschlossen aussieht, aber nur angelehnt ist und das eines Tages eingebaut wurde, um zu verhindern, dass Drogensüchtige ihre Spritzen in unserer Sandkiste liegen lassen. Meine Stimmung passt zu diesem nasskalten Dezembertag, sie passt zum taubengrauen Himmel, sie passt nicht zum Tag der Tage, für den ich zu wenig enge Freunde habe, zu pleite und zu hobbylos bin. Ich bin elf Jahre alt, ich bin draußen auf der Straße unterwegs, streife durch die Stadt, mit einer Handvoll Böller. Auch, wenn wir für richtige Partys eigentlich zu jung sind, meine Mitschüler und ich, weiß ich, dass manche von ihnen mit ihren Familien ins neue Jahrtausend hineinfeiern und andere die Jahrtausendwende bei ihren Freunden verbringen.

Die Dämmerung bricht langsam herein, als ich beschließe, mich auf den Rückweg zu machen. Vorbei an den sechs oder acht Stufen, die an die Außenmauer des Karstadtgebäudes angrenzen, vorbei an der Post nahe der großen Bergstraße. Am Schaufenster des KlamottenladensHundertmark bleibt mein Blick an der dunkelbraunen Lederjacke für 699 Mark kleben. Kurz hellt sich meine Stimmung auf, als ich mir vorstelle, diese schwere, edle Lederjacke eines Tages zu besitzen. Nach ein paar Sekunden reiße ich mich los. Es gibt die Welt hinter der Auslage, und es gibt meine Welt, und dazwischen gibt es die Sicherheitsscheibe, die unüberwindbar zwischen meinen Tagträumen und der Realität steht. Das hinter der Scheibe, das bin nicht ich, das werde ich nie sein.

Die Kälte zieht mich wie an einer Schnur zurück nach Hause. Allein Böller auf die Straße zu werfen, so wie ich es bis vor wenigen Minuten gemacht habe, erzeugt keine Freude in mir, es ist eher etwas, das ich pflichtbewusst erledige, weil alle Jungs in meinem Umfeld vernarrt darin sind, etwas in die Luft zu jagen. Die letzten zwei D-Böller stecke ich zurück in die Tasche. Am Ende der großen Bergstraße explodiert plötzlich etwas unmittelbar vor meinen Füßen. Die Detonation ist heftig, sie reißt mich aus meiner Lethargie. Ich sehe ein paar übermütige Jugendliche, die sich mit Böllern beschmeißen, und hoffe, dass sie nicht auf mich zielen. Der Schock, den die Explosion in mir auslöst, wird verstärkt durch die empfundene Isolation von der Welt, die mich schon umgeben hat, lange bevor ich das Haus verlassen habe. Eine Isolation, die genau genommen ein Teil von mir ist. Eine Isolation, die gleichzeitig auch ein Trugschluss ist, denn ich bin nicht allein, meine Mutter wartet zu Hause, auch ihr geht es nicht gut, auch sie ist allein. Genau genommen ist es kein isoliertes Alleinsein, wir sind jeder für sich nebeneinander allein. Es ist das Alleinsein des versprengten Rests einer Familie aus der unteren Klasse.

Vor einiger Zeit habe ich online einer Podiumsdiskussion über soziale Herkunft und Klassenwechsel zugesehen, und in den Wochen und Monaten danach ploppte der Titel der Veranstaltung immer wieder in meinem Inneren auf:Die Klasse, die es nicht gibt. Die Formulierung zeigte mir eine Realität auf, die sich meinem Bewusstsein bisher entzogen hatte, obgleich ich ihre Wahrheit körperlich spürte. Schon seit meiner Kindheit existieren für mich parallel zwei Realitäten, die sich zu widersprechen scheinen.

Die eine besagt, dass es nur mich gibt, nur ich allein kann mir meiner selbst sicher sein. Klar, da sind noch meine Mutter, meine Schwester, mein Vater, aber es ist wichtig, dass ich mich auf niemanden verlasse. Keine Freunde werden bleiben, keine Frau. Es ist eine Art innerer Kern, der nicht durch das Vertrauen in andere Menschen kontaminiert werden darf, denn im Außen wartet der Verrat. Hoffnung nur dann, wenn ich bereit bin, die der Hoffnung auf dem Fuß folgende Enttäuschung zu akzeptieren, die zum Gefühl, verlassen zu werden, dazugehört. Gefühle dieser Art haben mit dem Pathos nichts gemein, das der unteren Klasse zugeschrieben wird. Teile der Gesellschaft haben es sich angewöhnt, mit unversöhnlichem Blick au