1. KAPITEL
Auf dem Kaminsims tickte eine Uhr und erinnerte Nicola an die Endlichkeit des Lebens. Vor drei Wochen hatte sie erfahren, dass ihr väterlicher Freund John Turner gestorben war. Und vor wenigen Tagen war sie durch einen weiteren Brief der Kanzlei Harthill und Berry zu diesem Termin gebeten worden.
Sie saß kerzengerade und gefasst vor dem massiven Schreibtisch des Anwalts und mochte die Tasse Tee, die man ihr angeboten hatte, kaum anrühren.
Mr. Harthill hatte ihr bei der Begrüßung warmherzig sein Beileid ausgesprochen, als wäre sie die Tochter oder eine nahe Verwandte des Verstorbenen gewesen. Jetzt setzte er mit der Lesebrille auch eine geschäftsmäßige Miene auf. „Als mein Klient das letzte Mal in London war, bat er mich, sein Testament zu ändern und Sie als Alleinerbin seines Vermögens einzusetzen, Mrs. Whitney.“
Nicola sah ihn verständnislos an. „Wie bitte?“
„Sie sind die Alleinerbin“, wiederholte der Anwalt. „Wenn wir die Formalitäten geregelt haben, sind Sie eine wohlhabende Frau.“
Für einen Moment herrschte Stille, und Nicola vernahm wieder das unheimliche Ticken der Uhr. Sie hatte John Turner nicht lange, aber recht gut gekannt. Von einem Vermögen wusste sie jedoch nichts. Das Ganze musste ein Missverständnis sein.
„Das kann ich nicht glauben“, sagte sie leise.
„Mr. Turner hatte keine eigenen Kinder“, erklärte Mr. Harthill geduldig.
Das stimmte. Zumindest hatte John sie nie erwähnt.
„Zu dem Nachlass gehört auch ein kleiner Palazzo in Venedig. In Ca’ Malvasia hatte er mit seiner Frau gelebt. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, verbrachte er dort seine glücklichsten Jahre.“
Von seinem Elternhaus in London hatte John ihr erzählt. Er wollte es verkaufen, weil es zu groß für ihn war und er sich sowieso meist auf Reisen befand. Aber ein Palazzo in Venedig? Den Namen Ca’ Malvasia hatte sie noch nie gehört. Johns Frau Sophia war zwar Italienerin gewesen, aber Nicola hatte nie darüber nachgedacht, wo sie gemeinsam gelebt hatten.
„Ist Mr. Turner dort gestorben?“, fragte sie.
Mr. Harthill schüttelte den Kopf. „Ca’ Malvasia hat er nach dem Tod seiner Frau vor vier Jahren nicht mehr betreten. Mein Klient starb auf einer Geschäftsreise in Rom an einem Herzinfarkt.“
Nicola faltete unwillkürlich die Hände in ihrem Schoß. Hoffentlich war jemand bei ihm gewesen. Der Gedanke, dass John einsam gestorben war, quälte sie.
„Mr. Turner wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte“, sagte der Anwalt. „Deshalb traf er Vorkehrungen. Er beauftragte mich, Ihnen dieses nach seinem Tod zu geben. Darin finden Sie auch die Schlüssel zu dem Palazzo in Venedig.“
Er überreichte ihr einen dicken Umschlag, der an sie adressiert war.
„Falls Sie Ca’ Malvasia besichtigen möchten, kann ich Sie meinem Kollegen in Venedig avisieren. Signor Mancini war jahrelang der Anwalt der Familie. Er wird Ihnen sicher gern bei der Organisation der Anreise behilflich sein und Ihnen den Palazzo zeigen. Er könnte Sie auch beraten, falls Sie verkaufen wollen. Ich bin sicher, dass er einen angemessenen Preis für Sie erzielt.“
Nicola schwirrte der Kopf. „Ich brauche Zeit“, murmelte sie. „Ich muss nachdenken. Meine Arbeit …“
„Überstürzen Sie nichts.“ Mr. Harthill begleitete sie zur Tür. „Und scheuen Sie sich nicht, mich in Anspruch zu nehmen, wenn Sie irgendetwas brauchen.“
Nicola bedankte sich mit einem Lächeln.
Sobald sie die Haustür aufgeschlossen hatte, stürzte ihr Sandy entgegen. Nicola und Sandy kannten sich vom College, wo sie beide Wirtschaftswissenschaften studiert hatten. Seit drei Jahren teilten sie eine Wohnung im Londoner Stadtteil Bayswater.
„Ich platze vor Neugier“, rief Sandy und zog sie mit sich in die Küche. „Der Tee ist schon gebrüht.“
Nicola fiel wieder auf, wie verschieden sie waren. Ihre Freundin war klein und hatte einen wilden roten Lockenkopf, während sie selbst das blonde Haar zu einem Knoten geschlungen trug. Sandy war quirlig und offenhe