Stadtnatur Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen
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Josef H. Reichholf
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Stadtnatur Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen
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oekom verlag
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9783987262623
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1
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CHF 17,00
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Natur und Gesellschaft: Allgemeines, Nachschlagewerke
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German
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192
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kein Kopierschutz
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PC/MAC/eReader/Tablet
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ePUB
Wanderfalken am Kölner Dom, Wildschweine in Berliner Villenvierteln, Waschbären am Hamburger Hafen - viele Wildtiere haben den urbanen Lebensraum längst für sich entdeckt. In einem Umland der Monotonie, geschaffen durch die moderne Land- und Forstwirtschaft, sind Städte zu Inseln der Vielfalt geworden. Während die Städter raus in die »Natur« fahren, flieht die Natur in die Stadt. Hier ist sie inzwischen vielfältiger und weniger bedroht als auf dem Land, wo Füchse erlegt und Bienen vergiftet werden. Gewohnt provokant spricht Josef H. Reichholf Klartext, räumt mit gängigen Mythen auf und argumentiert gegen die weitere Verdichtung unserer Städte und die Verteufelung fremder Arten. Zugleich zeichnet er ein geradezu liebevolles Bild von Waldkäuzen, Siebenschläfern& Co. und öffnet uns so die Augen für unsere tierischen Mitbewohner. Ein streitbares Buch - und eine Hommage an Natur, Stadt und ihre Menschen.
Josef H. Reichholf ist einem breiten Publikum als Autor zahlreicher Sachbücher bekannt, darunter mehrerer Bestseller. Bis 2010 war er an der Zoologischen Staatssammlung München aktiv und lehrte als Professor für Ökologie und Naturschutz an der Technischen Universität München. 2009 gehörte Reichholf zu den 40 prominentesten Naturwissenschaftlern Deutschlands (Cicero-Ranking); ferner ist er Träger des Grüter-Preises für Wissenschaftsvermittlung und wurde mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet.
Drei Erlebnisse zur Einführung
Nachtigallen
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in Berlin
Ein Abend im Mai. Autos schoben sich im Schritttempo in schier endlosen Kolonnen über eine mehrspurige Straße zur Peripherie der Millionenstadt, die noch nicht wieder Hauptstadt geworden war, dies aber bald werden würde. Das zeichnete sich ab, nachdem sich das historische Wunder der Wiedervereinigung ereignet hatte. Berlin zog nun an, was es aufnehmen sollte und konnte, wie ein gigantischer Strudel, der mit seinem Sog auf ganz Mitteleuropa wirkte. Verkehr, sehr dichten Verkehr, war ich aus München gewöhnt, von wo ich gekommen war. Noch per Flugzeug, weil die Bahnverbindung zu langsam, zu wenig ausgebaut war. Was sich auch bald ändern, verbessern sollte. Die Taxifahrt von Tegel zum Zielort ergab keine besonderen Ausblicke, obgleich ich beim stockenden Verkehr viel Zeit zum Schauen hatte. Doch bei der Ankunft am Hotel änderten sich meine von der Hektik der Reise gedämpften Empfindungen mit einem Schlag. Buchstäblich, denn der »Schlag« einer Nachtigall erreichte meine Ohren durchs Stadtgedröhn. Ich blieb wie angewurzelt stehen, das weiß ich noch ganz genau. Es war nicht nur »ein Schlag«, sondern ein vollständiger, voll klingender Gesang der Nachtigall. Aus einer kleinen Buschgruppe kam er mit dem unvergleichlichen Schluchzen, das dem Gesang der Nachtigall eine globale Spitzenposition unter den Vogelliedern eingetragen hat. Zwischen zwei Strophen sah ich sie von einem bodennahen Zweig zum nächsten huschen. Fast wie ein Mäuschen. Ein paar Schritte ging ich zu auf das Gebüsch. Die Nachtigall störte dies nicht. Sie sang und sang. In einer kleinen Anlage in der Nähe sangen weitere
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Nachtigallen
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. Anderntags hörte ich ihre Lieder aus anderen Gebüschen und auch in Potsdam.
Von Berliner Ornithologen erfuhr ich, dass es über tausend
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Nachtigallen
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sind, die im Stadtgebiet singen. Schier unvorstellbar aus Münchner Sicht, macht doch eine Nachtigall in der »Weltstadt mit Herz«, wie sich München gern bezeichnet, allenfalls auf der Frühjahrswanderung kurz Zwischenrast und singt ein paar Strophen im so schönen Englischen Garten an der Isar, wo er etwas wilder, weniger parkartig wird. Dies ist für Münchner Naturfreunde ein besonderes Ereignis, auch wenn es kaum mehr als einige Tage bzw. Nächte andauert. Dann ist sie weitergeflogen, die Nachtigall, nach Unterfranken vielleicht, wo im Maintal warme Hänge von Rebstöcken überzogen sind, oder eben nach Berlin. Dort lebten damals, Anfang der 1990er-Jahre, allein ähnlich viele
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Nachtigallen
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wie in ganz Bayern. Da zudem in München und sogar auf dem (bayerischen) Land die Spatzen angefangen hatten, sich rar zu machen, setzten die Berliner Sperlinge für mich noch eins drauf mit ihrer Allgegenwart bis hinein in die dicht bebauten Zentren. Aus der ornithologischen Fachliteratur wusste ich überdies, dass es im Berliner Stadtwald, dem Grunewald, eine Anzahl (gut untersuchter) Habichtsbruten gab, dass der Schwarzmilan dort nistete und dass im Hochwinter allabendlich riesige Schwärme von Krähen ins Stadtzentrum strebten, um zu übernachten.
Berlin zeichnete sich also durch eine sehr reichhaltige und zahlenstarke Vogelwelt aus. Was sollte ich als Münchner dagegenhalten? So sehr ich nachdachte, es fiel mir keine Vogelart ein, die ich als Besonderheit hätte anführen können. Dabei hatte ich den Nymphenburger Park mit direktem Zugang gleichsam »hinter mir«, solange die Zoologische Staatssammlung im Nordflügel von Schloss Nymphenburg untergebracht war. An diesem Forschungsmuseum, das mit seinen Sammlungen zu den global zehn größten zählt, wie auch das Berliner Museum für Naturkunde, war ich über dreieinhalb Jahrzehnte tätig. Dank günstiger Lage, die sich mit dem Neubau der Zoologischen Staatssammlung ein Stück nordwestlich des Nymphenburger Parks ergab, der 1985