Einleitung
Unterwegs zwischen Grenzen. Europas Minderheiten im Schwitzkasten der Nationen
In meiner Familie gibt es ein Geheimnis. Ach, was sage ich. Nicht nur in meiner Familie. Dieses Geheimnis teilen im Dorf meiner Großeltern so gut wie alle Familien, genauso wie in den Dörfern das Tal hinauf und hinunter. So betrachtet ist das Wort Geheimnis fast zu groß gegriffen. Wie auch immer: Als ich im Kärnten der Neunzigerjahre aufgewachsen bin, hätte diese Sache genauso gut ein Geheimnis sein können. Ich habe nichts davon gehört. Ich habe nichts davon gesehen. Ich habe nichts davon gewusst.
Das Thema kommt nur sporadisch in alten Familiengeschichten zum Vorschein. Wenn meine Tante etwa davon erzählt, dass meine Großeltern hin und wieder in eine den Kindern unverständliche Sprache verfallen sind, sobald diese etwas nicht verstehen sollten. Ich habe mir bei diesen Geschichten nie etwas gedacht. Ich selbst habe diese Sprache in meiner Zeit als Kind vor allem nie gehört. Oder zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.
Diese Sprache – dieses Geheimnis – ist das Slowenische. Im Dorf meiner Großeltern haben es noch vor wenigen Generationen so gut wie alle gesprochen. Heute nennen sie das Dorf Ratnitz. Früher ist es mal Ratenče genannt worden: von meiner eigenen Familie, von den Nachbarn, in den Dörfern das Tal hinauf und hinunter. Denn diese gesamte Gegend im Süden des österreichischen Bundeslandes Kärnten ist seit Jahrhunderten slowenischsprachig gewesen und auch wenn ein schleichender Prozess der Germanisierung die Sprachgrenze bereits weit in den Süden verschoben hat: Ganz erreicht hat sie die Gegend um Ratenče doch erst vor wenigen Generationen.
Bei näherer Betrachtung überrascht es trotz allem kaum, dass so selten über diese Geschichte gesprochen wird. Immerhin versteckt sich in meiner Familiengeschichte ein viel größerer Prozess, der sich in ganz Kärnten – Koroška – in fast identischer Form abgespielt hat. Es ist eine Geschichte der Gewalt, der Unterdrückung, Diskriminierung, ja zum Teil sogar der aktiven Vertreibung. Vor allem ist es aber eine Geschichte der schleichenden, hartnäckigen und unnachgiebigen Assimilation. Eine Geschichte des Lebens in einem gesellschaftlichen Klima, in dem es für Tausende von Menschen irgendwann eben „einfacher“ war, Deutsch zu sprechen anstatt ihre Muttersprache Slowenisch. In der Öffentlichkeit, im Beruf und letztendlich sogar in der Familie.
Nur so erklärt sich die eigentlich unerklärbare Tatsache, dass noch vor hundert Jahren ein Drittel der Kärntner Bevölkerung Slowenisch als Muttersprache angegeben hat – nicht nur in unserer Gegend, im äußersten Süden des Landes, sondern noch weit darüber hinaus. Nur so ist zu erklären, dass heute vielleicht noch ein paar Zehntausend davon übrig sind. Wenn es denn überhaupt so viele sind. Um in Ratenče noch Slowenisch zu hören, muss man inzwischen ziemlich genau wissen, wo man hinhören muss. In den Nachbardörfern Loče und Pogorje ist es ähnlich. Ein paar Kilometer weiter westlich im Gailtal ist die Sprache inzwischen fast gänzlich ausgestorben und auch in die andere Richtung im Rosental schaut die Lage nicht gerade – entschuldige bitte – rosig aus.
Als Kind und Jugendlicher wusste ich davon wie gesagt kaum etwas. Und ganz ehrlich: Es wäre mir auch herzlich egal gewesen. Als Jugendlicher im Villach der frühen Zweitausender hatte man nun wirklich andere Probleme. Mädchen zum Beispiel. Oder beim Fortgehen in der berüchtigten Villacher Innenstadt nicht aus Versehen abgestochen zu werden, weil man in den Augen irgendeines Halbstarken gar zu „blöd schaute“. Diese Ausrede lasse ich mir auch mit dem Blick von heute noch durchgehen. Aber ganz so leicht kann ich es mir selbst trotzdem nicht machen. Ich muss an dieser Stelle nämlich einen der größeren Widersprüche in meinem Charakter ansprechen: Ich bin im Alter von zwanzig Jahren nach Wien gezogen, um dort Geschichte zu studieren. Ja. Ausgerechnet Geschichte! Da hätte mich die ungewöhnliche Vergangenheit meiner Heimatregion und meiner eigenen Familie doch ein wenig mehr interessieren können. Aber nein. Bis vor Kurzem hatte ich darauf so gar keine Lust und es sind immerhin lockere fünfzehn Jahre seit Beginn meines Studiums vergangen.
Noch heute ist es so, dass ich Familiengeschichte oder beispielsweise Stammbäume an und für sich zwar faszinierend und manchmal auch erhellend finde. Aber das trifft eigentlich nur zu, wenn andere die Stammbäume machen. Mich selbst hinzusetzen, bei Verwandten nachzubohren, gar in Kirchenbüchern oder Ähnlichem zu schmökern … das hat mich nie gereizt und das ist bis heute so. Geschichte macht mir eben mehr Spaß, wenn sie weit weg von Zuhause stattfindet. So habe ich mich bald in den pompösen Hörsälen der Universität Wien wiedergefunden und Vorlesungen zur Antike im Mittelmeerraum gelauscht. Oder zur Neuzeit im Mesoamerika. Oder zur Moderne in Großbritannien. Nur nichts über meine Heimat und wie ihre Geschichte auch meine Familie und damit mein eigenes Großwerden beeinflusst hat.