Die Prophezeiung
Zu Hause war dicke Luft. Die Mutter räumte gerade die fertigen Brotlaibe aus dem Backofen, als Bruni mit mehr als vier Stunden Verspätung nach Hause kam. Sie sah nicht einmal auf, als Bruni in den Hof lief. Stattdessen stand ihr Vater in der Tür, beide Hände in die Seiten gestemmt, und offensichtlich bereit, ihr eine handfeste Standpauke zu halten.
Bruni blieb mit demütig gesenktem Kopf vor ihm stehen. „Herr Vater, es tut mir aufrichtig Leid, dass ich so spät zurückgekehrt bin.”
„Zu spät, ja, in der Tat! Deine Mutter und deine Schwestern mussten die ganze Arbeit alleine machen.” Ihr Vater klang ziemlich wütend. „Wärst du kleiner, würde ich dir jetzt Prügel geben. Aber du bist schon groß, fast eine erwachsene Frau. Eine Frau, die immer noch kindliche Flausen im Kopf hat. Was du brauchst, ist die feste Hand eines Ehemannes, ein paar Kinder und vernünftige Arbeit.”
Bruni erschrak. Was war in den Vater gefahren? Wollte er ihr jetzt schon die Schule verbieten? Ihre Stimme zitterte. „Herr Vater, es wird nicht wieder vorkommen, ich gelobe es Euch. Bitte, ich werd´ die Arbeit wieder wettmachen. Ihr sollt sehen, ich werde so fleißig sein wie die Mutter, jeden Tag! Ihr werdet Euch über mich nicht wieder beklagen müssen!”
Der Vater sah aus, als ob er noch etwas sagen wollte. Da räusperte sich der Großvater im Hintergrund. Der Vater wandte sich ohne ein weiteres Wort ab.
Bruni ging schnell zum Großvater. „Danke, Großvater, vielen Dank.”
„Wärst selbst schuld gewesen, hätte der Adalbert dir die Schule verboten”, brummte er. „Sieh zu, dass du die Arbeit zu Hause nicht noch einmal vergisst!”
„Ach, Großvater!” Bruni umarmte den alten Mann liebevoll. Er brummelte gerne, aber sie wusste genau, dass hinter seiner grimmigen Miene viel Verständnis und Mitgefühl steckte. Der Großvater liebte seine Enkelkinder, und Bruni als die Älteste hatte einen besonderen Platz in seinem Herzen. Tagelang hatte er auf seinen Sohn eingeredet, bis der einverstanden war und seine Tochter tatsächlich in die Stadt und auf die Schule schickte. Der Vater war niemals mitgegangen, so wenig wie die Mutter. Der Großvater hatte ihr den verbotenen Weg gezeigt, er hatte sie in die Stadt zu seiner Schwester Lillian gebracht, die dann alles Weitere mit der Schule regelte. Vor ihm hatte der Vater Respekt. Großvaters Wort galt in der Familie.
Die Liesel steckte den Kopf durch die Tür. „Bruni, du sollst die Kuh noch melken!”
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