1. KAPITEL
Durch das Flugzeugfenster betrachtete Daniel die Stadt und die Küste unter ihm. Gerade hatte der Pilot durchgesagt, dass sie mit etwas Verspätung in Mascot landen würden, und flog nun eine Schleife über Sydney. So konnten die Passagiere die Metropole bewundern – die Metropole mit dem angeblich schönsten Hafen und den herrlichsten Stränden der Welt.
Nach Daniels Ansicht war das nicht übertrieben. Er kannte viele andere Großstädte wie New York, San Francisco und Rio de Janeiro, aber Sydney war in der Tat etwas ganz Besonderes. Vielleicht lag es an den Strahlen der Morgensonne, die die Strände so strahlend weiß und das Wasser so unwirklich blau erscheinen ließen. Allein der Anblick des Hafens mit seinen berühmten Wahrzeichen, der Brücke und der Oper, stimmte Daniel heiter.
Wie gut, dass Beth darauf bestanden hatte, dass er nach Hause kam, auch wenn es nur zu Besuch war.
Nach Hause …
Merkwürdig, dass er Sydney immer als seine Heimat angesehen hatte. Sicher, er war hier geboren und sechs Jahre in Australien zur Schule gegangen, wodurch sein amerikanischer Akzent nicht so stark ausgeprägt war. Aber den größten Teil seines Lebens hatte er in den Vereinigten Staaten verbracht, genauer gesagt in Los Angeles. Der Stadt der Engel. Oder der Teufel, ganz wie man es betrachtete.
Das Leben dort konnte sehr hart sein. Normalerweise konnte er damit umgehen, es tat ihm sogar gut. Im letzten Jahr war es allerdings schwer gewesen, und das Weihnachtsfest hatte er als besonders trostlos empfunden.
Ein Schauer lief Daniel über den Rücken. Obwohl seit dem Tod seiner Mutter bereits acht Monate vergangen waren, hatte er das Gefühl, es wäre erst gestern gewesen.
Noch immer war es ihm ein Rätsel, wie er sich hatte zusammenreißen können, als sein Vater auf der Beerdigung mit seiner neuen Frau aufgetaucht war – seiner vierten, jung und blond, genau wie ihre Vorgängerinnen. Sein Vater war inzwischen fünfundsechzig, zehn Jahre älter, als seine Mutter im nächsten Monat geworden wäre. Wie alle erfolgreichen Filmproduzenten schien er eine starke Anziehungskraft auf ehrgeizige junge Starlets auszuüben.
Auch seine Mutter hatte alles durch die rosarote Brille gesehen, als sie dem attraktiven Ben Bannister auf dessen Reise nach Sydney begegnete. Er war dreißig und sehr erfahren, sie zwanzig und ausgesprochen naiv.
Daniel fragte sich oft, warum sein Vater seine Mutter geheiratet hatte, denn die hübsche kleine Brünette aus Bondi hatte eigentlich überhaupt nicht zu ihm gepasst. Sicher, er hatte sie geschwängert, aber war das wirklich ein ausreichender Grund gewesen? Schließlich hatte er es ihr überlassen, ihre gemeinsamen Kinder großzuziehen.
Obwohl alle seine Ehen höchstens einige Jahre hielten, waren immer Kinder daraus hervorgegangen. Daniel hatte mehrere Halbbrüder und – schwestern, die er jedoch kaum kannte. Sein Vater lebte schon lange nicht mehr in Los Angeles, sondern war nach New York gezogen, nachdem er seine Mutter vor dreißig Jahren verlassen hatte. Oder war es neunundzwanzig Jahre her?
Ja, wohl eher, überlegte Daniel. Er war sechs Jahre älter als seine kleine Schwester Beth, die zum Zeitpunkt der Trennung gerade anfing zu laufen. Jedenfalls war er alt genug gewesen, um fast genauso zu leiden wie seine liebevolle und warmherzige Mutter, die das Ende ihrer Ehe nie verwunden hatte. Bevor sein Vater sie endgültig verließ, gestand er ihr, dass er sie die ganze Zeit betrogen hatte. Anfangs betäubte sie ihren Schmerz mit Tabletten, später mit Alkohol. Und schließlich mit anderen Männern, jungen Kerlen, die sie nur ausnutzten und das Geld verprassten, das man ihr nach einem Vergleich zugesprochen hatte.
Als die Situation unerträglich wurde, schritt Daniels verwitweter Großvater mütterlicherseits ein und nahm Beth und ihn mit zu sich nach Australien. Dort gab er ihnen ein neues Zuhause und schickte sie auf eine gute Schule. Das Leben bei ihm in Sydney gefiel den beiden Kindern sehr, vor allem seiner Schwester. Bereits nach wenigen Monaten erklärte Beth, sie wolle für immer dort bleiben. Daniel fühlte sich auch sehr wohl, doch gleichzeitig machte er sich Sorgen um seine Mutter. Obwohl sie in ihren Briefen behauptete, mit dem Trinken aufgehört zu haben und einer geregelten Arbeit nachzugehen, fand sie immer eine neue Ausrede, um sie nicht zu besuchen.
Nach der Highschool fühlte er sich geradezu verpflichtet, nach Los Angeles zurückzukehren. Dort stellte er erleichtert fest, dass seine Mom tatsächlich nicht mehr trank, dafür aber erschreckend gealtert war. Und da sie wenig Geld verdiente, lebte sie in einer regelrechten Bruchbude. Weil er sie nicht dazu bewegen konnte, mit ihm nach Australien zurückzukehren, lieh er sich Geld von seinem Großvater, suchte für sie beide eine vernünftige Wohnung und begann ein Jurastudium. Mit drei verschiedenen Teilzeitjobs bestritt er seine Studiengebühren und ihren Lebensunterhalt.
Als er