Eins
»Wenn du nicht weißt, wo du hingehst,
solltest du wissen, wo du herkommst.«
Gullah-Weisheit
Ich spüre ein Gefühl der Leere in meinem Herzen, als ich am Anleger stehe, da, wo der Fluss in einer letzten Windung um mein Zuhause herumströmt, bevor er ins Meer mündet, das Gefühl, dass das noch nicht alles gewesen sein kann. Der Wind liebkost mein Gesicht. Zwei Delphine, Mutter und Kind, springen in perfekter Gleichzeitigkeit aus dem Wasser, dann verschwinden ihre silbrigen Leiber wieder in den zinngrauen Wellen. Ich breite die Arme weit aus und bitte die Welt, mir alles zu bringen, wonach ich mich sehne. Heute ist mein zwölfter Geburtstag. Meine Eltern haben mir ein rosarotes Fahrrad geschenkt, mit einem Bananensattel und Troddeln rechts und links am Lenker. Aber dieses Geschenk erscheint mir irgendwie nicht angemessen – nicht bedeutsam genug.
Ich wende mich vom Fluss ab und springe auf mein neues Rad. Da ich mein limonengrünes Festtagskleid trage, stelle ich mich auf die Pedalen und trete behutsam, um den Tüll nicht zu zerreißen. Ich lechze nach der Unabhängigkeit, die ein Fahrrad bietet und die die Jungen in meiner Straße schon längst genießen. Fahren gelernt habe ich auf dem Rad meines Nachbarn Timmy. Ich rolle an meinem Elternhaus vorbei und weiter am Fluss entlang, auf unserer langen Straße, die als Sackgasse endet. Mutter steht auf der Veranda und ruft, ich solle augenblicklich zurückkommen und mich umziehen, bevor ich mit dem grässlichen Ding losflitze. Doch ich trete nur kräftiger in die Pedalen. Mutter schreit zu meinem Vater hinüber, so schrill, wie sie es aus Verzweiflung über mich häufig tut: »Dewey, ich hab dir doch gesagt, wir hätten ihr kein Fahrrad kaufen sollen. Sie ist auch so schon wild genug.«
»Ach, Harriet, lass dem Mädchen doch das Vergnügen!«, erwidert Daddy.
Mutters Antwort höre ich nicht mehr, denn ich bin längst vorbei und um die Kurve gesaust. Unsere Straße windet sich genauso wie die giftigen Mokassinschlangen, die unterhalb unseres Grundstücks im Sumpf wohnen – sie schlängelt sich erst nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links –, ja, es ist wirklich eine lange Straße, und sie folgt den Biegungen des Flusses, bis er an der Spitze der Landzunge ins Meer fließt. Als die Erwachsenen mir erzählten, dass der weite blaue Fluss hinter unserem Haus ins Meer mündet und dann bis auf die andere Seite nach Afrika fließt, habe ich das nicht geglaubt. Ich glaube überhaupt nicht viel von dem, was sie mir weismachen wollen. Sie leben ja gar nicht mehr richtig – dauernd machen sie sich Sorgen um Nebensächliches wie Frisuren oder Autos oder zu welcher Party sie eingeladen sind.
Quietschend bremse ich, denn vor dem früheren Haus der Carmichaels blockiert ein Möbeltransporter meine Straße. Wie eine Zunge aus einem offenen Mund hängt hinten aus dem Wagen eine verbeulte schwarze Rampe heraus. Große Männer, in der Hitze des Lowcountry schweißgebadet, laden Kartons aus, auf denen in dicker schwarzer Schrift »Dannys Zimmer«, »Wohnzimmer« oder »Bibliothek« steht. Ich springe mit beiden Füßen auf den Boden und halte das Fahrrad zwischen den Beinen, so dass mein Tüllkleid sich aufbläht wie ein grüner Ballon mit einer Delle hintendrin.
Die Haustür des mit silbrig grauen Holzschindeln verkleideten Gebäudes steht offen, und eine weitere Rampe führt auf die vordere Veranda hinauf. Einer der größten Männer, die ich je gesehen habe, erscheint im Eingang. Er schaut zu mir herüber und winkt, bevor er sich mit einem weißen Tasc