1. KAPITEL
Isobel Matthews hatte schon damit gerechnet, ihn zu sehen.
Ihren Schwager. Raphael Tanner.
Rafe …
Natürlich war er hier. Natürlich pünktlich, damit er die Feierlichkeiten nicht verpasste – so wie es Isobel trotz aller Bemühungen passiert war. Als sich der Wind die schwere Holztür des Kirchensaals schnappte und sie hinter ihr zuknallte, rechnete sie ebenfalls damit, dass er sich, wie alle anderen, umdrehen würde, um zu schauen, wer sich so unentschuldbar verspätet hatte.
Womit Isobel jedoch nicht gerechnet hatte: dass sie sich seiner Gegenwart so unglaublich bewusst war. Sie hatten nur einen Sekundenbruchteil Blickkontakt – und all die Erinnerungen von damals, die sie tief in ihrem Herzen vergraben hatte, waren plötzlich wieder da.
Sie hatte sich in Sicherheit gewiegt, dass sie diesen Kerl überwunden hatte. Dass sie ihr Leben weiterleben konnte, ohne Raphael Tanner jemals wiederzusehen. Dass sie sich nicht noch einmal so aus der Bahn werfen lassen würde.
Aber es war wohl eine falsche Sicherheit gewesen.
Rafe beendete den Blickkontakt, noch bevor er wirklich stattgefunden hatte, und drehte sich zurück zum Pfarrer, der neben ihm stand. Aber ganz offensichtlich hatte er Isobel nicht hier erwartet. Sein ganzer Körper hatte sich so schnell versteift, dass sie sich sicher war: Er wäre erleichtert gewesen, wenn sie nicht aufgetaucht wäre.
Vielleicht war sie nicht die Einzige, die ihre Erinnerungen gern weiterhin vergraben hätte.
Die Anziehungskraft, die von ihm ausging, war zu stark, als dass Isobel genauso schnell den Blick abwenden konnte. Doch dann atmete sie einmal durch und kratzte genug Mut zusammen, um sich diesen Leuten und der Situation zu stellen.
Sie spürte ihr Herz klopfen, als sie bemerkte, welchen Unterschied sieben Jahre machen konnten. Rafes Gesicht war schmaler geworden, die Linien von der Nase zu den Mundwinkeln waren tiefer. Er war jetzt Ende dreißig und wurde bereits grau – oder war es nur das Licht, das sich in den feinen Regentropfen, die er von draußen mit hereingebracht hatte, auf den dunklen Locken brach?
Neben der Tür standen zahlreiche noch tropfende Regenschirme, und viele hatten ihre schweren Mäntel angelassen, als frören sie auch hier drinnen noch. Kein Wunder, denn im Versammlungssaal der alten Kirche war es wirklich kalt. Die meisten Leute standen vor einem Tisch, auf dem Tassen und Becher sowie große Kannen mit heißem Teewasser und Kaffee waren.
Isobel hatte die Zeremonie am Grab offenbar nur um wenige Minuten verpasst.
Dabei wäre es der wichtigste Teil gewesen. Sie wusste schon jetzt, dass sie das ihr Leben lang bedauern würde – und natürlich auch, dass die anderen hier es als Bestätigung sehen würden, wie sehr sie sich von ihrer Familie entfernt hatte. Von Anfang an war ihr klar gewesen, dass es nicht einfach werden würde, herzukommen, aber es war ihr nichts anderes übrig geblieben.
Also stellte sie sich in die Schlange und bereitete sich darauf vor, mit einigen der Menschen sprechen zu müssen, die es trotz des grässlichen Aprilwetters auf sich genommen hatten, an der Beerdigung von Sharon und Lauren Matthews teilzunehmen.
Die kommenden Tage und Wochen würden noch so einiges für Isobel bereithalten, vor dem sie sich auch nicht drücken konnte. Erst, wenn alles geregelt sein würde, konnte sie wieder abreisen.
Und nie mehr wiederkommen.
Rafe führte den Pfarrer an der Schlange vorbei zum Kaffeeausschank, damit er als einer der Ersten etwas Warmes bekam. Isobel stellte sich hinten an.
Es fiel ihr nicht schwer zu erkennen, wie traurig Rafe war, und das löste auch in ihr eine neue Welle der Trauer aus, die sie seit Tagen immer wieder überfiel – genauer gesagt: seitdem sie die schreckliche Nachricht erhalten hatte, dass ihre Mutter und ihre Schwester bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren.
Während des langen, langen Flugs von Neuseeland zurück nach England und dann auch noch während der dreißig Stunden in Singapur, die sie wegen eines technischen Defekts hatte warten müssen, hatte sie viel zu viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Neben der Trauer verspürte sie vor allem Schuld, weil sie sich nicht rechtzeitig dazu aufgerafft hatte, die kaputte Beziehung zu ihrer Familie zu kitten. Jetzt war es zu spät. Zudem fühlte sie sic