2019
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9. September 2019
Es ist Herbst und dunkel, vereinzelte Straßenlaternen beleuchten die Straßenbiegung. In einem der Einfamilienhäuser brennt Licht, die Scheinwerfer eines vorüberfahrenden Autos streifen über den schwarzen, feuchten Asphalt.
Albert Kangasharju sitzt dösend in seinem Schaukelstuhl. Er schläft nicht, ist aber auch nicht wach. Traum oder Wirklichkeit, für ihn ist da kein Unterschied. Mitunter sind sie ein und dasselbe. Orte, Zeiten und Erinnerungen – die Reihenfolge wechselt, sie vermischen sich. Immer öfter gleiten seine Gedanken weit in die Vergangenheit zurück, auch weil vor ihm nichts mehr liegt, auf das er warten könnte. Die ihm vertrauten lächelnden Gesichter, Freunde, Kindheitssommer, Verwandte, die schon vor Jahren gestorben sind, all das gehört der Vergangenheit an.
Der Schaukelstuhl knarrt, der Lichtstreifen unter der Tür wird durchbrochen, als eine Pflegerin vorbeigeht. Draußen trommeln Regentropfen wie kleine Perlen gegen das Fensterblech. Maija aus dem Nachbarzimmer ruft nach ihrer längst verstorbenen Mutter. Auf dem Fensterbrett kann er die Silhouette eines Blumenstraußes ausmachen. Jemand hat Blumen für die Vase mitgebracht, und er denkt angestrengt nach, wer es war. Hat ihn heute jemand besucht? Alles ist ein einziges großes Durcheinander. Tage, Träume, Nächte, Monate, Jahre. Er kann die Gesichter auf den Fotos nicht mehr unterscheiden, weiß aber, welche Personen darauf zu sehen sind: auf einem der Fotos er und Hilkka an ihrem Hochzeitstag, auf einem anderen Mutter, Vater und der kleine Bruder, während dort drüben die vergilbten Fotos der Mädchen mit ihren Abiturientenmützen stehen.
Sein Rücken schmerzt.
Albert denkt, wenn der Mensch altert, schrumpft alles. Nicht nur der Mensch selbst, sondern auch alles um ihn herum. Unter dem Gewicht der Zeit sackt die Welt zusammen wie eine von Wasser durchtränkte Decke. Und die Alten werden in Heimen begraben, lange bevor sie tot sind.
Der Schaukelstuhl knarrt erneut. Albert schreckt hoch, er war also doch weggenickt.
Der Traum ist zum Greifen nah. Albert fühlt, dass er sich auf ihn herabsenkt wie ein schwerer Mantel.
Er sehnt ihn herbei und fürchtet ihn zugleich.
Dann kehrt der Traum zurück und zeichnet einen Wald ans Fenster.
Im Traum steht Albert auf einer Lichtung. Die Bäume um ihn herum sehen aus wie die Speere eines Riesen, abgeknickt, wild übereinandergeworfen und mattschwarzschimmernd. Es riecht nach einer Mischung aus Frost, Harz und feuchter Erde. Zwischen den Stämmen wabert dünner Nebel. Es ist vollkommen still, doch der alte Mann weiß, dass diese Stille trügt. Der Wald ruft ihn.
Schreit.
Zwischen den Baumstämmen steht eine Frau. Albert hofft, dass sie Zündhölzer bei sich hat. Denn dann könnte er ein Hölzchen streichend entfachen und die Dunkelheit für einen kurzen Augenblick verbannen. Ihn verlangt es, ihr Gesicht zu sehen. Er muss es einfach sehen.
Albert schreckt aus dem Schlaf hoch.