Kapitel zwei
Der Flur war leer.
Und stockfinster. Das einzige Licht, das unheimliche Schatten an die Wände zeichnete, kam vom Treppenaufgang am gegenüberliegenden Ende.
Kara leckte sich nervös die Lippen, wie sie es Hunderte Male getan hatte, wenn sie durch dieses alte Haus geschlichen war. Sie huschte zur Treppe und eilte auf Zehenspitzen die Stufen hinunter, wobei sie kaum zu atmen wagte, um ja kein Geräusch zu machen.
Im ersten Stock blieb sie stehen und lauschte, doch außer dem Weihnachtslied von vorhin war nichts zu vernehmen.
»Stille Nacht …«
Lautlos hastete sie über den Läufer und öffnete die Tür zu dem Zimmer, das sie sich mit Marlie teilte.
»Heilige Nacht …«
Das Zimmer war leer. Die Kleiderstapel lagen noch immer auf Marlies Bett, daneben die Stiefel und der aufgeklappte Koffer. Karas eigenes Bett war so, wie sie es verlassen hatte, die Bettdecke zurückgeschlagen, das Laken zerknittert.
Kara schlich zu dem kleinen Schreibtisch, an dem sie ihre Schulaufgaben verrichtete, und nahm die rosa Taschenlampe aus der oberen Schublade. Sie ließ den Strahl durchs Zimmer und in die Ecken gleiten. Keine Marlie.
Kara biss sich auf die Lippe.
Kämpfte gegen die Panik an, die sich erneut in ihr breitmachte.
Durch die einen Spaltbreit geöffnete Tür hörte sie die Musik von unten.
»Hirten längst kundgemacht …«
Wieso spielt ständig dasselbe Lied?
Als hätte jemand die Repeat-Taste auf demCD-Player gedrückt.
Sie spähte durch den schmalen Spalt und vergewisserte sich, dass der Flur leer war, bevor sie hinaus und in Jonas’ Zimmer schlüpfte. Er hatte den kleinsten Raum, der noch unordentlicher war als sonst. Das Bett war zerwühlt, der Schreibtisch überladen mit allerlei Kram, auf dem Fußboden türmten sich schmutzige Kleidungsstücke und Spiele. Kara schaltete die Taschenlampe an und zuckte zurück. O Gott! Sie schaute in zwei braune Augen, die sie blicklos anstarrten. Es gelang ihr gerade noch, den Schrei hinunterzuschlucken, der in ihrer Kehle aufstieg. Eine Sekunde später realisierte sie, dass das Augenpaar zu dem Hirschkopf gehörte, der für gewöhnlich an der Wand hing und der nun auf dem Fußboden lag. Das Geweih ragte bizarr in die Höhe.
Die Taschenlampe glitt ihr aus der Hand.
Mist!
Ihr Herz hämmerte so heftig gegen ihren Brustkorb, dass sie fürchtete, es würde explodieren.
Reiß dich zusammen, schimpfte sie innerlich.Das ist doch bloß ein Hirsch, noch dazu einer, der schon lange tot ist! Überall im Haus hingen Jagdtrophäen an den Wänden, und ja, sie hatten ihr immer schon Angst eingejagt, aber das war kein Grund, sich in die Hose zu machen. Kara hob die Taschenlampe auf und ließ den dünnen Lichtstrahl über den Rest des Chaos gleiten. Ein Stück von dem Hirschkopf entfernt stand eine halb leere Flasche Gatorade, daneben auf dem Boden der ausgestopfte Adler, der sonst an der Wand hing – genau wie der Hirschkopf. Überall lagen Federn verstreut. Wieso war der Vogel von dem Haken an der Wand gefallen? Kara trat einen Schritt näher und zuckte erneut zurück. Dem Adler fehlte der Kopf – ein sauberer Schnitt, als hätte man ihn vorsätzlich enthauptet. Hektisch sah sie sich um und entdeckte den Kopf ein Stück weiter weg auf dem Teppich, den scharfen Schnabel in den Teppich gebohrt.
Mit zitternden Händen richtete sie die Taschenlampe auf die Wand über Jonas’ Kommode, wo ein Schwert hing, ein Relikt aus einem Krieg, der schon seit langer Zeit vorüber war. Es war streng verboten, die Waffe zu berühren, geschweige denn von der Wand zu nehmen. Das durfte keiner von ihnen, auch nicht Jonas, niemals.
Nie.
Das Schwert war fort.
Kara war nicht überrascht.
Erst heute Nachmittag hatte sie durch die halb geöffnete Tür beobachtet, wie Jonas sich dem Verbot widersetzte und mit dem Schwert herumfuchtelte, als wäre er ein Krieger in einem Fantasy-Film. Ein Ninja oder so was.
Idiot, hatte sie gedacht.
Jetzt hatte sie schreckliche Angst.
Sie drehte sich um und verließ Jonas’ Zimmer, die Finger fest um den Griff der Schere geschlossen.
Den nächsten Raum teilten sich ihre beiden anderen Brüder. Donner war Marlies richtiger Bruder, beide waren von Mam