: Dr. med. Lisa Federle
: Vom Glück des Zuhörens Wie uns gute Beziehungen stark machen | Von der bekannten Notärztin und Spiegel-Bestseller-Autorin
: Verlagsgruppe Droemer Knaur
: 9783426446386
: 1
: CHF 18.00
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine, die Mut macht: Deutschlands bekannteste Notärztin über den Wert des Zuhörens Mit ihrer zupackenden Art hat sie im Fluchtsommer 2015 und während der Pandemie das ganze Land bezaubert. Ihre Patient*innen wissen indes schon lange, was sie an Lisa Federle haben: eine Ärztin, die hinschaut, wenn sich andere abwenden, die nachfragt, wenn dem Gegenüber die Worte fehlen. In ihrem neuen Buch fasst Lisa Federle die großen gesellschaftlichen Probleme an, die ihr in ihren Jahrzehnten als Ärztin täglich begegnen: Einsamkeit, Sucht, Demenz, Angst, Depression, Burn-out, von den psychosomatischen Folgen persönlicher Krisen nicht zu schweigen. All diese Leiden hängen zusammen und lassen sich durch Medikation oft nur lindern, nicht aber heilen. Doch indem wir wieder lernen einander zuzuhören, können wir die Probleme an ihrer Wurzel packen. Anhand ihrer eigenen turbulenten Berufs- und Lebenspraxis zeigt Lisa Federle, wie solch ein rücksichtsvolles Miteinander aussehen könnte. »Menschen wie sie bilden den Kitt in unserer Gesellschaft - und das nicht nur in Krisenzeiten.« Bundespräsidialamt

Lisa Federle, 1961 in Tübingen geboren, arbeitet dort seit 2001 als Notfallmedizinerin und seit 2004 als leitende Notärztin. 2015 entwickelte sie eine 'rollende Arztpraxis' zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen. Während der Corona-Pandemie wurde die rollende Arztpraxis zur mobilen Teststelle. Damit leistete Lisa Federle den entscheidenden Beitrag zum Tübinger Modell. 2020 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz, 2021 gründete sie mit Jan Josef Liefers und Michael Antwerpes die Initiative #BewegtEuch, um benachteiligten Kindern und Jugendlichen sportliche Aktivitäten zu ermöglichen.

Alltag


Wenn etwas ist, melden Sie sich sofort bei mir. Über das Handy können Sie mich jederzeit erreichen«, sagte ich. »Ansonsten machen Sie bitte einen Termin an der Rezeption für nächste Woche zur Urinkontrolle.«

Die junge Frau nickte dankbar und steckte das Rezept in ihren Rucksack. Sie gehörte zu den Patientinnen, mit denen ich nicht zu sehr in die Tiefe gehen musste, um sie erfolgreich behandeln zu können. Sie hatte eine leichte Blasenentzündung, die sie sich auf einer Party von einer Studentenverbindung geholt hatte. Ich dachte, zum Glück bin ich aus dem Alter raus, um aus Eitelkeit frieren zu müssen und mir eine Blasenentzündung zuzuziehen. Ich ging davon aus, dass sie es sich draußen geholt hatte. Solche Infekte kann man sich ja durchaus auch beim zwischenmenschlichen Näherkommen einfangen. Es war also nichts Besorgniserregendes.

Wir verabschiedeten uns. Die Uhr an meinem Handgelenk zeigte halb neun. Die Praxis war normal besetzt. Ich war einigermaßen entspannt. Kein Notarztdienst mehr, kein Wettlauf gegen die Zeit, in der jede Sekunde zählt und über Leben und Tod entscheidet. Bei meiner Tätigkeit weiß man allerdings nie so recht, was der Tag noch mit sich bringen wird. Das ist auch der Grund, warum ich, wenn ich Sprechstunde habe, mich, so gut es geht, in Gelassenheit übe und die Dinge einfach auf mich zukommen lasse. Dem Anschein nach konnte ich mir nun richtig Zeit für meine Patienten nehmen.

Die nächste Patientin war Judith. Sie kam zur Tetanus-Auffrischungsimpfung, und ich freute mich richtig auf sie. Obwohl wir befreundet waren, hatte ich sie einige Zeit nicht gesehen. Es kam immer wieder vor, dass ich mehrere Wochen gar keine Zeit für meine Freunde hatte, weil ich mehr oder weniger rund um die Uhr als Ärztin und mit meinen Ehrenämtern beschäftigt war und auch noch meine Familie hatte. Trotzdem versuchte ich immer für meine Freunde da zu sein.

Judith betrat das Zimmer, hübsch und elegant hergerichtet wie immer, eine schwarze Markenhandtasche hielt sie fest in der rechten Hand. Über ihr durchaus markantes Gesicht huschte ein Lächeln, als sie mich sah, aber ich erkannte sofort, dass sich dahinter eine gewisse Traurigkeit verbarg. Ihre tiefe Blässe im Gesicht, die der rote Lippenstift besonders hervorhob, ließ mich kurz erschrecken und erinnerte mich wieder an unsere erste Begegnung vor ungefähr zehn Jahren.

Damals, wie fast jedes Wochenende, hatte der Wecker um sechs Uhr geklingelt und mich jäh aus dem Schlaf gerissen. Draußen war es noch dunkel und neblig, Spätherbst … Ich duschte, schlüpfte in Jeans und Pullover und trank gemütlich meinen Milchkaffee. Das Frühstück ließ ich meistens ausfallen. Anschließend meldete ich mich bei der Leitstelle zum Notdienst. An diesem Tag vertrat ich meine niedergelassenen Kollegen und wartete auf Anrufe der Rettungsleitstelle, die mir die Hausbesuche für die kranken Patienten durchgeben sollte.

Es war ein ganz gewöhnlicher Tag, ein Hausbesuch nach dem anderen fiel an. Mein Sohn David begleitete mich. Er fuhr das Auto und half mir, die Patienten aufzunehmen, Blutdruck zu messen, und unterstützte mich bei meinem Dienst. Ich war froh, nicht alles allein machen zu müssen. Er war zu dieser Zeit durch seine Ausbildung zum Rettungsassistenten sehr sachkundig und damit eine große Hilfe.

Wir standen vor einem unscheinbaren, fabrikähnlichen Haus und suchten die Klingeln nach dem Namen »Gärtner« ab. Im ersten Stock befand sich eine Anwaltskanzlei mit diesem Namen. Aber das oberste Schild trug denselben Namen, also entschieden wir uns für die oberste Klingel. Trotz des dörflichen Charakters befanden wir uns in einem Gewerbegebiet. Während wir auf das Öffnen der Tür warteten, ging mir kurz durch den Kopf, was eine Anwaltskanzlei wohl inmitten eines Gewerbegebiets machen würde. Der Summer ertönte. Wir stiegen die Treppen der vier Stockwerke hoch. Das Treppenhaus machte einen schäbigen Eindruck, ein neuer Anstrich hätte ihm sicherlich gutgetan. Oben angekommen, öffnete uns eine schätzungsweise fünfzig Jahre alte Frau mit dunklen Haaren. Sie trug einen weißen Bademantel. Im Gegensatz zum Treppenhaus machte sie einen sehr gepflegten Eindruck.

»Guten Tag«, sagte sie, »kommen Sie bitte rein, mir ist total übel und schwindelig.« Sie war kalkweiß und sah richtig krank aus.