: Rebecca Michéle
: Miss Emily und der tote Diener von Higher Barton Ein Cornwall-Krimi
: Dryas Verlag
: 9783986720445
: 1
: CHF 10.30
:
: Historische Kriminalromane
: German
: 330
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Cornwall, 1905: Emily steht für ihre Überzeugungen als Suffragette ein und muss dafür sogar eine Nacht in der Zelle verbringen. Das wird ihrer Mutter zu viel. Sie schickt ihre Tochter zu einem entfernten Verwandten nach Cornwall aufs Land - in der Hoffnung, dass sie dort die richtige Partie für eine Heirat findet. Bei Emilys Ankunft im Herrenhaus Higher Barton wird die Leiche eines Dieners entdeckt, woraufhin sich die energische junge Frau in die Ermittlungen stürzt. Sehr zum Leidwesen des örtlichen Vikars, dem diese Vorkommnisse in seiner Kirchgemeinde gar nicht gefallen. Doch Emily scheut kein Risiko, um den Todesfall aufzuklären und gerät dadurch bald selbst in Gefahr.

Rebecca Michéle, geboren 1963 in Süddeutschland, lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Stuttgart. Seit über 20 Jahren widmet sie sich ausschließlich dem Schreiben und hat bereits mehrere historische Romane und Krimis veröffentlicht. Mehr unter: www.rebecca-michele.de

EINS

London – 1905

Die Mittagszeit war längst vorüber, doch die Menschenschlange riss nicht ab. Unablässig drängten Frauen, Kinder und alte, gebrechliche Männer mit der Hoffnung auf ein warmes Essen heran. Zumindest einmal am Tag das ständige nagende Knurren im Magen vergessen können! Vielleicht gab es für die Kinder auch heiße Milch, und die Kleinen hörten auf zu weinen.

Seufzend wischte sich Emily mit dem Ärmel ihres grauen, formlos geschnittenen Kleides über die schweißnasse Stirn und fragte: »Lucy, wie viel Suppe ist noch im Kessel?«

Lucys Bluse klebte ihr ebenfalls am Körper und ihr Gesicht war krebsrot. »Vielleicht noch für zwei Dutzend Portionen. Ein paar mehr, wenn wir etwas Wasser hinzugeben.«

Emily stöhnte. »Zwei Dutzend!« Sie deutete auf die Schlange in der Gasse vor der Suppenküche. »Da stehen gut und gern hundert hungrige Mäuler. Für die meisten ist es die erste Mahlzeit heute, wahrscheinlich sogar das erste warme Essen seit Tagen.«

»Wenn wir nur mehr Geld hätten …«, murmelte Lucy.

Ein Junge, fünf oder sechs Jahre alt, streckte Emily seinen Blechnapf entgegen. Der Blick aus den dunklen Augen in dem spitzen, blassen Gesicht wirkte wie der eines erwachsenen Mannes. Seine schmutzige, zerlumpte Kleidung verriet Emily, dass er keine Familie mehr hatte. Die städtischen und kirchlichen Waisenhäuser waren überfüllt, die dortigen Zustände miserabel, so versuchte der kleine Kerl, sich allein durchzuschlagen. Mit allen Bedürftigen hatte Emily Mitleid, die Kinder aber taten ihr am meisten leid. Ach, wenn sie nur mehr ausrichten könnte, als aus den kargen Spendengeldern warme Suppen zu kochen!

Aus dem Kessel schöpfte Emily eine Kelle des kräftigen Gemüseeintopfes und gab sie in den blechernen Napf des Jungen. Sie zögerte, dann füllte sie eine zweite Portion hinzu.

Die blassen, spröden Lippen des Jungen verzogen sich zu einem dankbaren Lächeln. »Danke, Miss. Gott segne Sie.« Er eilte davon, um seine Suppe zu essen, solange sie noch warm war.

»Ich weiß, Lucy«, raunte Emily der Freundin zu, »nur eine Kelle pro Person. Er sah aber so hungrig aus.«

Lucys Mundwinkel verzogen sich bitter. »Du kannst nicht alle sattbekommen, dafür sind es zu viele …«

»Wenigstens die Kinder …«, murmelte Emily und gab die nächste Ration einem alten, zahnlosen Weib mit gekrümmtem Rücken. Lucy tat das Gleiche bei einem halbwüchsigen Mädchen, dem die Schwindsucht ins Gesicht geschrieben stand.

Die beiden Frauen arbeiteten unermüdlich weiter. Die Suppenküche im East End, wo die Ärmsten der Armen einmal täglich eine warme Mahlzeit erhielten, war eine von vielen im Moloch London, gestiftet von einem Fabrikbesitzer, der seine A