: Fjodor M. Dostojewski
: Die Brüder Karamasow. Vierter Teil Roman in vier Teilen
: apebook Verlag
: 9783961305612
: 1
: CHF 2.40
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: Erzählende Literatur
: German
Die Brüder Karamasow sind so unterschiedlich wie Körper, Geist und Seele. Iwan, ein Atheist und grüblerischer Intellektueller; Dmitri, ein sprunghafter Sensualist und Rivale seines Vaters um die schöne Gruschenka; und Alexej, getrieben von unerschütterlicher Frömmigkeit. In ihrem Schatten steht ihr verstoßener Halbbruder, der in die Knechtschaft gedrängt wurde. Gemeinsam handeln sie, um sich von dem ausschweifenden Patriarchen zu befreien. Dann, in einer einzigen schockierenden Tat, ändert sich das Schicksal der Brüder unaufhaltsam. Die Ermordung des brutalen Großgrundbesitzers Fjodor Karamasow verändert das Leben seiner Söhne unwiderruflich: Dmitri, der Sensualist, der aufgrund der erbitterten Rivalität mit seinem Vater sofort unter Mordverdacht gerät; Iwan, der Intellektuelle, der an den Rand des Zusammenbruchs getrieben wird; der spirituelle Alexej, der versucht, die Risse in der Familie zu kitten; und die schattenhafte Gestalt ihres unehelichen Halbbruders Smerdjakow. 'Die Brüder Karamasow' sind Fjodor Dostojewskis tiefgründiges, bahnbrechendes Meisterwerk des psychologischen Realismus, das sich mit den Themen Gott, freier Wille, Glaube, Zweifel und moralische Verantwortung auseinandersetzt. Dostojewskis düsteres Meisterwerk beschwört eine Welt herauf, in der die Grenzen zwischen Unschuld und Korruption, Gut und Böse verschwimmen und der Glaube an die Menschheit auf die Probe gestellt wird. Dies ist der vierte von insgesamt vier Teilen. Die Ausgabe ist ausgestattet mit erläuternden Anmerkungen und einem verlinkten Namensregister.

1. Kolja Krassotkin

Es war Anfang November. Wir hatten elf Grad Kälte und damit auch Glatteis. Auf die gefrorene Erde war in der Nacht etwas trockener Schnee gefallen, und der trockene, scharfe Wind hob ihn auf und fegte ihn durch die langweiligen Straßen unseres Städtchens und besonders über den Marktplatz. Der Morgen war trüb, aber der Schneefall hatte aufgehört. Nicht weit vom Marktplatz, nahe bei Plotnikows Laden, stand das kleine, außen wie innen sehr saubere Häuschen der Beamtenwitwe Krassotkina. Der Gouvernementssekretär Krassotkin selbst war schon vor langer Zeit gestorben, vor fast vierzehn Jahren; seine Witwe, eine zweiunddreißigjährige, immer noch recht hübsche Frau, lebte in dem sauberen Häuschen von ihren Renten. Sie lebte ehrbar und zurückgezogen und besaß einen sanften, ziemlich heiteren Charakter. Im Alter von achtzehn Jahren hatte sie ihren Mann verloren, nachdem sie mit ihm nur ein Jahr lang zusammengelebt und ihm eben erst einen Sohn geboren hatte. Seitdem widmete sie sich ganz der Erziehung ihres Sohnes Kolja, ihres größten Schatzes, und die ganzen vierzehn Jahre hatte sie in ihrer maßlosen Liebe zu ihm unvergleichlich mehr Leid als Freude erlebt, da sie fast täglich vor Angst zitterte, er könnte sich erkälten, krank werden, Dummheiten machen, auf einen Stuhl steigen und herunterfallen, und so weiter und so fort. Als Kolja die Vorschule und dann unser Progymnasium besuchte, begann die Mutter mit ihm zusammen eifrig zu lernen, um ihm bei seinen Aufgaben helfen und sie ihm abfragen zu können. Sie bemühte sich, mit den Lehrern und ihren Frauen bekannt zu werden, und suchte sogar durch Freundlichkeit und Schmeicheleien die Gunst von Koljas Schulkameraden zu gewinnen, damit ihr Kolja nicht verspottet und nicht geschlagen wurde. Sie brachte es dahin, daß sich die Jungen ihretwegen wirklich über ihn lustig machten und ihn neckten, er sei ein Muttersöhnchen. Doch Kolja verstand sich zu wehren. Er war ein mutiger Junge, »furchtbar stark«, wie es von ihm in der Klasse hieß und bald bestätigt wurde; er war gewandt, frech, dreist und unternehmungslustig und besaß einen energischen Charakter. Er lernte gut, und es hieß sogar, daß er im Rechnen und in Weltgeschichte mehr leistete als der Lehrer Dardanelow selbst. Obgleich er auf alle herabsah und das Näschen hoch trug, war er doch ein guter Kamerad und nicht überheblich. Den Respekt seiner Mitschüler nahm er als etwas Gebührendes hin, verkehrte mit ihnen jedoch freundschaftlich. Die Hauptsache war, er wußte maßzuhalten, verstand sich zur rechten Zeit zu beherrschen und überschritt in seinen Beziehungen zu den Lehrern niemals jene äußerste, gerade noch erkennbare Grenze, hinter der das Benehmen ungehörig und ungesetzlich wird und nicht geduldet werden kann.

Dennoch war er ganz und gar nicht abgeneigt, bei jeder geeigneten Gelegenheit Streiche zu verüben, und zwar nicht bloß dabei mitzutun, sondern selbst etwas zu erfinden und auszuklügeln, etwas besonders »Feines«, Großartiges einzufädeln, womit er paradieren konnte. Vor allem war er sehr ehrgeizig. Er hatte es sogar verstanden, sich seine Mama untertan zu machen, er behandelte sie beinahe despotisch. Sie ordnete sich ihm auch wirklich unter, schon seit langer Zeit, und konnte nur einen Gedanken absolut nicht ertragen: daß der Knabe sie »zuwenig lieben« könnte. Es schien ihr immer, Kolja sei ihr gegenüber »gefühllos«, und manchmal machte sie ihm, krampfhaft schluchzend, Vorwürfe wegen seiner Kälte. Der Junge konnte das nicht leiden, und je mehr Herzensergüsse die Mutter von ihm verlangte, desto zurückhaltender wurde er, anscheinend absichtlich. Und doch geschah das von seiner Seite nicht absichtlich, sondern unwillkürlich; das lag nun einmal in seinem Charakter. Die Mutter irrte sich: er liebte sie sehr; was er nur nicht liebte, waren diese »kalbrigen Zärtlichkeiten«, wie er sich in seinem Schülerjargon ausdrückte. Der Vater hatte einen Schrank mit einer Anzahl von Büchern hinterlassen; Kolja liebte diese Bücher und hatte schon mehrere von ihnen still für sich