: Fjodor M. Dostojewski
: Aufzeichnungen aus einem toten Haus. Band Zwei Roman in zwei Bänden
: apebook Verlag
: 9783961305674
: 1
: CHF 2.40
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: Romanhafte Biographien
: German
'Aufzeichnungen aus einem toten Haus' ist ein 1861 veröffentlichter halbautobiografischer Roman des russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewski, der das Leben von Sträflingen in einem sibirischen Gefangenenlager schildert. Das Buch ist eine lose Sammlung von Fakten und Ereignissen, die eher nach 'Themen' als nach einer durchgehenden Geschichte geordnet sind. Dostojewski selbst verbrachte vier Jahre im Exil in einem solchen Lager, nachdem er wegen seiner Beteiligung am Petraschewski-Kreis verurteilt worden war. Diese Erfahrung ermöglichte es ihm, die Bedingungen des Gefängnislebens und die Charaktere der Häftlinge mit großer Authentizität zu beschreiben. 'Aufzeichnungen aus einem toten Haus' ist voller anschaulicher Details über brutale Strafen, schockierende Bedingungen, Fehden und Verrat und die psychologischen Auswirkungen des Freiheitsverlusts, beschreibt aber auch Momente der Komik und der Freundlichkeit. Es gibt groteske Badehaus- und Krankenhausszenen, die direkt aus Dantes Inferno zu stammen scheinen, neben waghalsigen Fluchtversuchen, zum Scheitern verurteilten Widerstandshandlungen und einer theatralischen Weihnachtsfeier, die die gesamte Gemeinschaft zusammenführt, um ihre düstere Realität vorübergehend außer Kraft zu setzen. Dies ist der zweite von zwei Bänden.

Einleitung


In den entfernten Gebieten Sibiriens, mitten unter Steppen, Bergen oder unwegsamen Wäldern, findet man ab und zu kleine Städte mit ein- höchstens zweitausend Einwohnern, aus Holz erbaut und unansehnlich, mit zwei Kirchen – die eine in der Stadt und die andere auf dem Friedhofe, – Städte, die eher einem größeren Kirchdorf in der Nähe Moskaus als einer wirklichen Stadt gleichen. Sie sind gewöhnlich mit einer genügenden Anzahl von Isprawniks, Assessoren und sonstigen subalternen Beamten versehen. Im allgemeinen ist der Dienst in Sibirien, trotz der Kälte, für die Beamten außerordentlich behaglich. Es leben da einfache, nicht liberale Menschen, und herrschen alte, festgefügte, von Jahrhunderten geheiligte Sitten. Die Beamten, die mit Recht die Rolle eines sibirischen Adels spielen, sind entweder eingeborene, eingefleischte Sibirier oder sind aus dem europäischen Rußland, zum größten Teil aus den Hauptstädten, zugezogen, von den Reisevorschüssen, die niemals verrechnet werden, den doppelten Vorspanngeldern und rosigen Hoffnungen auf die Zukunft verlockt. Diejenigen von ihnen, die des Lebens Rätsel zu lösen verstehen, bleiben für immer in Sibirien und fassen dort mit Genuß Wurzeln. Diese bringen später reiche und süße Früchte. Aber die anderen, die leichtsinnigen, die des Lebens Rätsel nicht zu lösen verstehen, haben von Sibirien bald genug und fragen sich mit Qual: »Warum sind wir eigentlich hergekommen?« Sie absolvieren mit Ungeduld die gesetzliche dreijährige Dienstzeit, nach deren Verlauf sie sich sogleich um eine Versetzung bemühen, und kehren heim, auf Sibirien schimpfend und es verspottend. Sie sind im Unrecht: nicht nur in Ansehung des Dienstes, sondern auch in verschiedenen anderen Hinsichten kann man in Sibirien wohl ein glückliches Leben führen. Das Klima ist vorzüglich; es gibt viele außerordentlich reiche und gastfreundliche Kaufleute und auch viele vermögende Fremdstämmige. Die jungen Mädchen blühen wie die Rosen und sind im höchsten Grade tugendhaft. Das Wildbret fliegt in den Straßen herum und stößt von selbst auf den Jäger. Champagner wird in unnatürlichen Mengen getrunken. Die Ernte ist stellenweise fünfzehnfach . . . Es ist überhaupt ein gesegnetes Land. Man muß nur verstehen, seinen Nutzen daraus zu ziehen. Und in Sibirien versteht man sich darauf.

In einem solcher lustigen selbstzufriedenen Städtchen mit der liebenswürdigsten Bevölkerung, die eine unauslöschliche Erinnerung in meinem Herzen zurückließ, lernte ich einen gewissen Alexander Petrowitsch Gorjantschikow kennen, einen Ansiedler, der im europäischen Rußland als adeliger Gutsbesitzer geboren, wegen der Ermordung seiner Frau zu Zwangsarbeit zweiter Klasse nach Sibirien verbannt worden war und nach Abbüßung der gesetzlichen zehnjährigen Strafzeit ein stilles und bescheidenes Leben als Ansiedler im Städtchen K. fristete. Eigentlich war er nach einer in der Nähe dieser Stadt gelegenen Dorfgemeinde zuständig, wohnte aber in der Stadt, wo er die Möglichkeit hatte, durch Unterricht von Kindern seinen Lebensunterhalt zu verdienen. In den sibirischen Städten trifft man oft als Lehrer solche ehemalige Verbannte; man hat hier keinerlei Vorurteile gegen sie. Sie unterrichten vorwiegend in der französischen Sprache, die im Leben so dringend notwendig ist und von der man, ohne sie, in den entlegenen Gegenden Sibiriens keine Ahnung gehabt hätte. Ich traf Alexander Petrowitsch zum erstenmal im Hause eines alten verdienten und gastfreundlichen Beamten, Iwan Iwanytsch Gwosdikow, welcher fünf Töchter verschiedenen Alters hatte, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigten. Alexander Petrowitsch gab ihnen Unterricht, viermal in der Woche zu dreißig Kopeken in Silber für die Stunde. Sein Äußeres weckte mein Interesse. Er war ein außerordentlich blas