: Fjodor M. Dostojewski
: Die Brüder Karamasow. Zweiter Teil Roman in vier Teilen
: apebook Verlag
: 9783961305599
: 1
: CHF 2.40
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: Erzählende Literatur
: German
Die Brüder Karamasow sind so unterschiedlich wie Körper, Geist und Seele. Iwan, ein Atheist und grüblerischer Intellektueller; Dmitri, ein sprunghafter Sensualist und Rivale seines Vaters um die schöne Gruschenka; und Alexej, getrieben von unerschütterlicher Frömmigkeit. In ihrem Schatten steht ihr verstoßener Halbbruder, der in die Knechtschaft gedrängt wurde. Gemeinsam handeln sie, um sich von dem ausschweifenden Patriarchen zu befreien. Dann, in einer einzigen schockierenden Tat, ändert sich das Schicksal der Brüder unaufhaltsam. Die Ermordung des brutalen Großgrundbesitzers Fjodor Karamasow verändert das Leben seiner Söhne unwiderruflich: Dmitri, der Sensualist, der aufgrund der erbitterten Rivalität mit seinem Vater sofort unter Mordverdacht gerät; Iwan, der Intellektuelle, der an den Rand des Zusammenbruchs getrieben wird; der spirituelle Alexej, der versucht, die Risse in der Familie zu kitten; und die schattenhafte Gestalt ihres unehelichen Halbbruders Smerdjakow. 'Die Brüder Karamasow' sind Fjodor Dostojewskis tiefgründiges, bahnbrechendes Meisterwerk des psychologischen Realismus, das sich mit den Themen Gott, freier Wille, Glaube, Zweifel und moralische Verantwortung auseinandersetzt. Dostojewskis düsteres Meisterwerk beschwört eine Welt herauf, in der die Grenzen zwischen Unschuld und Korruption, Gut und Böse verschwimmen und der Glaube an die Menschheit auf die Probe gestellt wird. Dies ist der zweite von insgesamt vier Teilen. Die Ausgabe ist ausgestattet mit erläuternden Anmerkungen und einem verlinkten Namensregister.

1. Vater Ferapont

Am frühen Morgen, noch vor dem Hellwerden, wurde Aljoscha geweckt. Der Starez war aufgewacht und fühlte sich sehr schwach, wünschte aber doch das Bett mit dem Lehnstuhl zu vertauschen. Er war bei voller Besinnung. Sein Gesicht zeugte zwar von großer Ermüdung, war aber klar und fast freudig und der Blick, heiter, freundlich und einladend. »Vielleicht werde ich nicht einmal den heutigen Tag überleben«, sagte er zu Aljoscha. Dann äußerte er den Wunsch, unverzüglich zu beichten und das Abendmahl zu nehmen. Sein Beichtvater war stets Vater Paissi. Nach dem Vollzug der beiden Sakramente begann die Letzte Ölung. Die Priestermönche versammelten sich, die Zelle füllte sich allmählich mit Einsiedlern. Inzwischen war der Tag angebrochen. Auch aus dem Kloster kamen Mönche. Als die heilige Handlung zu Ende war, wünschte der Starez von allen Abschied zu nehmen und alle zu küssen. Da die Zelle sehr eng war, gingen die zuerst Gekommenen wieder hinaus, um anderen Platz zu machen. Aljoscha stand neben dem Starez, der wieder im Lehnstuhl saß. Er redete und sprach Belehrungen aus, soviel er vermochte; seine Stimme war schwach, aber noch ziemlich fest. »So viele Jahre habe ich euch mit Belehrungen versehen und dabei so viele Jahre laut gesprochen, daß es mir förmlich zur Gewohnheit geworden ist, zu reden und redend zu belehren. Es würde mir fast schwerer fallen zu schweigen als zu reden, liebe Väter und lieber Brüder, sogar bei meiner jetzigen Schwäche«, scherzte er und blickte gerührt auf die Umstehenden. Aljoscha erinnerte sich später an dieses und jenes, was der Starez damals gesagt hatte. Obgleich er deutlich sprach und mit einigermaßen fester Stimme, war seine Rede doch ziemlich zusammenhanglos. Er sprach über vieles; er schien vor dem Tod gern noch sagen und aussprechen zu wollen, womit er im Leben nicht fertig geworden war, und zwar nicht nur der Belehrung wegen, sondern auch weil es ihn offenbar drängte, seine Freude und sein Entzücken mit allen und jedem zu teilen und nochmals sein ganzes Herz auszuschütten.

»Liebet einander, ihr Väter!« sprach der Starez, jedenfalls soweit sich Aljoscha später dessen entsann. »Liebet das Volk Gottes! Sind wir doch nicht deswegen heiliger als die Weltlichen, weil wir hierherkamen und uns in diesen Wänden einschlossen, im Gegenteil: Jeder, der hierherkommt, hat schon allein dadurch im stille bekannt, daß er schlechter ist als alle Weltlichen, als alle und jeder auf Erden ... Und je länger er in seiner Zelle lebt, um so fühlbarer muß er sich dessen bewußt werden. Andernfalls hätte er gar nicht zu kommen brauchen. Erkennt er aber, daß er nicht nur schlechter ist als alle Weltlichen, sondern auch allen Menschen gegenüber an allem und jedem Schuld trägt, an allen menschlichen Sünden, die von der ganzen Welt und von einzelnen begangen werden, dann erst wird der Zweck unserer Vereinigung erreicht. Denn wisset, ihr Lieben, daß jeder einzelne von uns an allem und jedem auf Erden Schuld trägt, nicht nur, weil er an der allgemeinen Schuld der Welt teilhat, sondern ein jeder einzeln für alle und für jeden Menschen auf dieser Erde. Dieses Bewußtsein ist die Krone für den Lebenswandel des Mönchs, ja eines jeden Menschen auf Erden. Denn die Mönche sind nicht andere Menschen, sondern nur solche, wie alle Menschen auf Erden es sein sollten. Erst dann wird unser Herz erfüllt sein von jener gerührten, unendlichen, allumfassenden Liebe, die keine Sättigung kennt. Dann wird jeder von euch imstande sein, die ganze Welt durch Liebe zu gewinnen und die Sünden der Welt mit seinen Tränen abzuwaschen. Ein jeder höre auf die Stimme seines Herzens, ein jeder beichte sich selbst unermüdlich. Fürchtet euch nicht vor eurer Sünde, auch wenn ihr euch ihrer bewußt geworden seid; genug, wenn Reue vorhanden ist, aber laßt euch nicht einfallen, Gott Bedingungen zu stellen. Wiederum sage ich euch, seid nicht stolz! Seid nicht stolz gegenüber den Geringen, nicht stolz gegenüber den Großen! Hasset nicht, die euch