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Lucy wollte gerade den Fuß in den Irrgarten setzen, als sie ein Geräusch hörte. Es klang wie ein hohes Wehklagen, verstummte aber, bevor sie es richtig orten konnte. Angespannt lauschte sie, doch außer dem Zwitschern derVögel in der Abenddämmerung blieb es still.
Du hast dich getäuscht, versuchte sie sich zu beruhigen und blickte über die hohen dunklen Hecken hinweg auf das Dach von Penrose House. Das alte Herrenhaus, das als eines der schönsten in ganz Cornwall galt, war nicht weit entfernt, sie musste nur noch das Labyrinth aus Zypressen durchqueren, um es zu erreichen.
Angst, sich darin zu verlaufen, hatte sie nicht, sie kannte den Weg, war ihn schon als Kind oft gegangen. Aber die Sonne sank bereits, und im schwindenden Licht wirkten die Hecken mit einem Mal so dunkel und drohend, dass Lucy ihre kurze Strickjacke schloss und hastig weitereilte.
Vielleicht hätte sie das Auto doch im Innenhof von Penrose House abstellen sollen, so wie Penelope Rowe es ihr ausdrücklich angeboten hatte. Doch die Besitzerin des Herrenhauses hatte sie herbestellt, um mit ihr über einen »sehr interessanten Auftrag« zu sprechen, und Lucy wollte unbedingt einen guten Eindruck machen. Deshalb hatte sie ihren rostigen alten Kastenwagen auf dem kleinen Parkplatz hinter dem Haus abgestellt, wo er vor Blicken geschützt war. Von dort musste man durch den Irrgarten, um das Haus zu erreichen, aber nun hatte sie die Hälfte auch schon fast geschafft. Noch zweimal abbiegen, dann …
Abrupt blieb Lucy stehen. Da war das Geräusch wieder! Es klang jetzt näher. Ein Schauer rann ihr über den Rücken. Jetzt war ihr die Sache doch ein bisschen unheimlich. Sonst war sie nicht besonders ängstlich, aber im Moment lagen ihre Nerven blank, was nicht nur dem langen, anstrengenden Tag im Laden geschuldet war, den sie hinter sich hatte, sondern auch dem Schreiben, das ihr die Anwaltskanzlei Fairfax and Fisher aus Truro vor zwei Tagen geschickt hatte und das schwer auf ihrer Seele lastete.
Der Brief lag jetzt sicher eingeschlossen in der Schublade von LucysNähtisch, denn ihre Mutter durfte ihn auf keinen Fall finden. Marian Evans erholte sich gerade von einem chronischen Hüftleiden, das sie über viele Jahre nahezu bewegungsunfähig gemacht hatte. Inzwischen gab es neue Therapieansätze, und nach einer erfolgreichen Reha-Maßnahme im vergangenen Sommer waren ihre Fortschritte riesig. Diesen Erfolg wollte Lucy nicht gefährden, deshalb hatte sie sich vorgenommen, ihrer Mutter erst von dem Brief zu erzählen, wenn ihr eine Lösung eingefallen war für das Problem, vor das er sie stellte. Doch das war gar nicht so einfach …
Ein Zweig knackte ganz in der Nähe, und Lucy hielt erschrocken den Atem an. Waren das Schritte auf dem schmalen Kiesweg? Oder gaukelte ihre Fantasie ihr das nur vor? Beide Möglichkeiten waren ihr nicht geheuer, und sie beschloss, den Irrgarten möglichst schnell zu verlassen. Sie war ohnehin schon spät dran für ihren Termin mit Penelope Rowe.
Eilig bog sie um die nächste Ecke und erreichte zu ihrer Erleichterung den freien Platz, der sich ungefähr in der Mitte des Irrgartens befand. Den Holzpavillon, der hier stand, hatte Lucy als halb verfallen in Erinnerung gehabt, doch er musste während der letzten zwei Jahre im Zuge der Renovierungsarbeiten am Herrenhaus hergerichtet und gestrichen worden sein, denn er leuchtete jetzt weiß in der Dämmerung und lud zum Verweilen ein. Lucy lief jedoch zügig weiter, nur um erneut stehen zu bleiben, als sie plötzlich wieder laut und deutlich