: Herfried Münkler
: Welt in Aufruhr Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert | «Tiefschürfend und überzeugend.» Süddeutsche Zeitung
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644014282
: 1
: CHF 24.00
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: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 528
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Spätestens seit dem Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan und dem russischen Überfall auf die Ukraine wissen wir, dass die bislang geltende Ordnung an ihr Ende gekommen ist. Die Welt ist in Aufruhr. Doch wie wird sie sich neu sortieren, und wie wird sie im 21. Jahrhundert aussehen? Vor welchen Umwälzungen, Brüchen und Umbrüchen stehen wir? Eine auf Werten und Normen fußende Weltordnung durchzusetzen, übersteigt die Fähigkeiten des Westens. Die USA, einst «Weltpolizist», befinden sich trotz internationalen Engagements auf dem Rückzug; die UN, der man diese Rolle ebenfalls zugedacht hatte, blockiert sich selbst. Und die Europäer sind schlicht nicht imstande, eine Weltordnung zu hüten. Eine prekäre, risikoreiche Lage, in der auch ein Blick in die Geschichte und auf frühere weltpolitische Konstellationen hilfreich ist, um Hinweise auf die künftige, sich jetzt herausbildende Ordnung zu erhalten. Herfried Münkler zeigt in dieser gedankenfunkelnden geopolitischen Analyse, wo in Zukunft die Konfliktlinien verlaufen. Viel spricht dafür, dass ein neues System regionaler Einflusszonen entsteht, dominiert von fünf Großmächten. Wo liegen die Gefahren dieser neuen Ordnung, wo ihre Chancen? Wäre es ein austariertes Mächtegleichgewicht - oder Chaos? Und wie sollten sich Europa und Deutschland in den zu erwartenden globalen Auseinandersetzungen verhalten? Ein aufregender, Maßstäbe setzender Ausblick auf die Machtkonstellationen im 21. Jahrhundert.

 Herfried Münkler, geboren 1951, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und eine unverzichtbare, prägende Stimme in den Debatten unserer Gegenwart. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa  «Imperien», «Die Deutschen und ihre Mythen», «Der Große Krieg» oder «Die neuen Deutschen» (mit Marina Münkler), allesamt Bestseller. Zuletzt erschienen «Welt in Aufruhr» und «Macht im Umbruch», die ebenfalls lange auf der «Spiegel»-Bestsellerliste standen. Herfried Münkler wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung, dem Carl Friedrich von Siemens Fellowship, dem Preis der Leipziger Buchmesse und dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch. 

Einleitung:Vom Wandel der Weltordnung


Die letzten Jahrzehnte sind von tiefgreifenden und folgenreichen Veränderungen der weltpolitischen Konstellationen geprägt, nachdem die Weltordnung zuvor für mehr als vierzig Jahre in Beton gegossen zu sein schien – jedenfalls, wenn man, wie die Deutschen, vor allem die Bipolarität von Ost und West mitsamt ihrer gesellschafts- und wertepolitischen Unterfütterung vor Augen hatte. Sieht man jedoch etwas genauer hin und weitet das Blickfeld auf den globalen Süden, so hat es auch in der Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Zerfall des Sowjetimperiums eine Reihe disruptiver Entwicklungen gegeben, wie etwa das Ende der europäischen Kolonialreiche. Von diesen waren zwar bereits während des Weltkriegs einige ins Wanken gekommen, aber die überwiegende Mehrheit der politischen Akteure ging bei Kriegsende davon aus, dass sie weiterhin eine weltpolitisch bedeutende Rolle spielen würden.

Als Winston Churchill 1946 in Zürich seine berühmte Rede mit der Forderung nach einer Vereinigung (West-)Europas hielt, dachte er mitnichten daran, dass Großbritannien ein Bestandteil dieses geeinten Europa sein werde, sondern sah im Britischen Weltreich einen eigenständigen Akteur der weltpolitischen Szene, die wesentlich von drei großen Mächten bespielt würde: denUSA, der Sowjetunion und eben demBritish Empire. Das vereinte Europa, wie Churchill es forderte, sollte als sicherheitspolitisches Glacis gegenüber der Sowjetunion dienen. Dass es das Empire schon bald nicht mehr geben würde, war für ihn unvorstellbar. Indem die Züricher Rede später in die Vorgeschichte des Europaprojekts gerückt und mitunter als dessen Startschuss bezeichnet wurde, ist der tiefe Bruch, den die weltpolitische Entwicklung gegenüber Churchills damaligem Weltordnungsentwurf darstellte, kurzerhand wegerzählt worden. Aus dem Bruch wurde eine geglättete Fortschrittserzählung, als deren Visionär Churchill figurierte.

Man muss sich dieses Beispiel vor Augen führen, wenn man verstehen will, warum die jüngsten Veränderungen als «Weltunordnung» bezeichnet werden. Es ist die Wahrnehmung vor allem derer, in deren Vorstellung die Weltordnung auf dem Ost-West-Gegensatz beruhte und in deren Aufmerksamkeitsfokus es jenseits dessen weltpolitisch kaum anderes gab. Tatsächlich war die bipolare Ordnung des globalen Nordens der große Bremser von Veränderungen, und sie gab eine Struktur der globalen Konstellationen vor, die auch den Süden des Globus erfasste; gegen deren Dominanz kam die Bewegung der «Blockfreien» nicht an. Der für diese Epoche häufig verwendete Begriff der «Eiszeit» hatte eine vielfältige Bedeutung: Nicht nur die Beziehungen zwischen beiden Seiten waren frostig bis eisig, sondern auch die auf Veränderung abzielenden Kräfte wurden im Osten eingefroren, um zu verhindern, dass sie sich politisch bemerkbar machen konnten. Auf jedes «Tauwetter» folgte darum entsprechend den Imperativen der bipolaren Ordnung eine neue «Eiszeit». Je stärker sich die Kräfte der Veränderung bemerkbar gemacht hatten, desto frostiger wurde im Ostblock anschließend das politische Klima. Bis zu den Reformen Gorbatschows war das eine quasi gesetzmäßige politische Thermik.

Das hat sich mit dem Ende des Ost-West-Konflikts grundlegend verändert. Die Sowjetunion, der konservative – oder präziser noch: der konservierende – Pol der Weltordnung, zerfiel, wobei auch im Rückblick frappiert, wie unspektakulär sich das Ende dieses vormals zentralen Akteurs der Weltpolitik vollzog. Mit einem Mal war er nicht mehr da, was vielen im Westen zum Anlass wurde, sich am Beginn einer Ära der Sorglosigkeit zu wähnen. Dem Untergang des von Lenin geschaffenen Reichs stand am Ende des 20. Jahrhunderts der rasante Aufstieg Chinas gegenüber, der sich zunächst relativ unauffällig vollzog und im Westen vielfach von der Erwartung begleitet wurde, mit der Einführung kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Elemente im Reich der Mitte werde auch die Einparteienherrschaft der Kommunisten verschwinden und eine demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung an ihre Stelle treten. Die Welt, so die Vorstellung, war nicht länger geteilt, weder machtpolitisch noch ideologisch, sondern wuchs zusammen, und die bis dahin durch den Ost-West-Gegensatz paralysierten Vereinten Nationen, so die Erwartung, würden bei der Bewältigung der Menschheitsaufgaben eine zentrale Rolle spielen.

Dieser bis vor kurzem noch dominante «Erwartungshorizont» (Koselleck) ist der zweite Grund, warum uns die gegenwärtigen Konstellationen als Weltunordnung erscheinen. Der Erwartungshorizont ist inzwischen