: Mary Renault
: Magda Birkmann, Nicole Seifert
: Freundliche junge Damen rororo Entdeckungen
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644017672
: rororo Entdeckungen
: 1
: CHF 10.00
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 448
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Hausboot auf der Themse in den schillernden Dreißigerjahren. Dort geht es um Freundinnen, Schwestern, die Liebe und das turbulente Leben. Unwiderstehlich unterhaltsam erzählt uns Mary Renault über Lebensentwürfe jenseits der Schubladen und Konventionen. «Freundliche junge Damen» ist ein charmanter und intelligenter Roman über Männer, Frauen und Freiheit - eine Wiederentdeckung der besonderen Art. Elsie ist behütet und naiv - und sie ist unglücklich. Die Eltern und das düstere Dorf im Cornwall erdrücken die Siebzehnjährige regelrecht, sodass es nicht verwundert, dass sie sich in den ersten präsentablen Mann verliebt: Peter. Der Arzt aus London rät ihr, von zu Hause abzuhauen und nach London zu ihrer Schwester Leonora zu gehen. Dort staunt Elsie nicht schlecht: Leo lebt auf einem Hausboot auf der Themse und schreibt Western, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und sie teilt Boot und Bett  mit einer Frau. Als Peter auf das Boot zu Besuch kommt und seine Aufmerksamkeit von einer freundlichen jungen Dame zur nächsten schweifen lässt, hat das für alle überraschende Folgen ...  Endlich auf Deutsch: Mary Renaults Roman ist ein moderner Klassiker und ein frühes Beispiel für Literatur mit LGBTQ-Themen. 

Mary Renault, geboren 1905 in London, besuchte die Oxford University, bevor sie eine Ausbildung zur Krankenschwester an der Radcliffe Infirmary in Oxford machte. Dort lernte sie ihre Lebenspartnerin Julie Mullard kennen. 1939 erschien Mary Renaults erster Roman. Nachdem sie den mit 25.000 Dollar dotierten MGM Prize für ihren Roman «Return to Night» gewonnen hatte, emigrierten sie und ihre Partnerin 1948 nach Südafrika, wo Renault 1983 starb. Bekannt war die Autorin vor allem für ihre historischen Romane aus der Antike, u.a. für die fiktiven Porträts von Sokrates, Plato oder Alexander dem Großen. 

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Elsie blickte sich vorsichtig um, ohne ihren dünnen jungen Hals oder die rundlichen Schultern zu bewegen. Ihr Blick huschte zunächst zur Terrassentür, die in den Garten führte, dann maß sie die Distanz bis zur Wohnzimmertür. Sie tat es instinktiv wie eine Maus, hatte sich das angewöhnt, seit sie krabbeln konnte. Obwohl es ihr jetzt wenig nützte, denn die Wohnzimmertür befände sich direkt im Gesichtsfeld des Vaters, falls sie diesen Fluchtweg wählen wollte. Soeben sagte er: «Es sollte doch eigentlich dem Dümmsten klar sein – zumindest außerhalb dieses Haushalts –, dass …»

Die Eltern hatten ihre Sessel an den Kamin gerückt, denn es war erst März, und die Familie Lane verfügte über ein gemütliches Heim. Elsie hatte einmal im Schulunterricht gesagt, sie «finde Heizkörper schön», was ihren Ruf, ein wenig verschroben zu sein, nur weiter zementierte. An solche Heizkörper musste sie jetzt denken, während sie mit dem Polsterhocker, auf dem sie saß, diskret ein wenig abrückte, um, falls nötig, hinter dem Sessel der Mutter zur Terrassentür flitzen zu können.

Dabei fiel ihr ein, wie ihre große Schwester Leonora früher, als sie noch zu Hause gewohnt hatte, bei solchen Gelegenheiten immer mit drei raschen Sprüngen an der Tür gewesen war und sie hinter sich zugeschlagen hatte, ja halbwegs den Strand erreicht hatte, ehe jemand auch nur ein Wort hervorbrachte. Elsie war und blieb unfähig, ihrem Beispiel zu folgen. Genauso gut hätte sie sich Flügel wachsen lassen können. Immer war sie es gewesen, die zurückblieb und sich die giftigen Kommentare und Repliken anhören musste, während Leo längst zu Ted und Albert hinuntergelaufen war, die am Hafen in den kleinen Cottages der Küstenwächter wohnten und mit denen sie den ganzen Tag lang in den Höhlen unterhalb der Klippen nach Treibgut fahndete. Elsie hatte ihr Ted und Albert nicht geneidet, im Gegenteil, sie musste der Mutter zustimmen, die beiden waren ungehobelt und unpassend. Sowieso war das inzwischen so lange her, dass Elsie nur noch selten daran dachte, die große Schwester zu beneiden. Nein, jetzt, wo bloß noch sie übrig war, stand es ihr frei, eigene Methoden zu ersinnen. Leo, die früher sogar imstande gewesen war, den Streit der Eltern auch noch anzuheizen, wurde in diesem Hause nicht mehr erwähnt. Elsie dachte nur noch ganz selten an sie.

Die Mutter sagte gerade: «… so mit mir zu reden! In meinem eigenen Haus.» Jetzt oder nie, dachte Elsie, bevor die Mutter «und das vor meinem eigenen Kind» hinzufügen konnte, denn dann wäre es zu spät. Behutsam, als wollte sie den Schlaf eines geliebten Menschen nicht stören, klappte sie ihr Buch zu, klemmte es sich unter den Arm und erhob sich auf langen dünnen Fohlenbeinen, an denen warme Winterstrümpfe Falten warfen. Ihre Schuhe waren fleckig von den Salzspritzern des Meeres. Elsie war ein unauffälliges Mädchen, eine graue Maus, schreckhaft und nicht sonderlich intelligent. Fast konnte man meinen, dass sie Angst hatte, erwachsen zu werden, weil das unweigerlich Aufmerksamkeit auf sie lenken würde. Sie hatte sich eine Tarnung zugelegt, die sie unsichtbar machte. Nicht ganz, aber beinahe.

«Da siehst du, was du angerichtet hast», verkündete die Mutter triumphierend, «mit deiner ständigen üblen Laune und deinem Gepolter, Arthur. Jetzt hast du die arme Elsie vertrieben. Dabei hat sie kaum diese schlimme Erkältung überstanden.»

Der Vater, der sich hinter derTimes verbarrikadiert hatte und seine Bemerkungen wie Handgranaten darüber hinwegwarf, riss die Zeitung herunter, was passenderweise ein dramatisches Rascheln hervorrief. Elsie, deren Haltung ohnehin schlecht war, sank über dem Türknauf noch mehr in sich zusammen, und der Ausdruck auf ihren noch ungeformten Gesichtszügen wirkte dümmlich-leer, fast blöde. Schon ging es wieder los, sie spürte es, schon krampfte sich ihr der Magen zusammen, Elsie wehrte sich nicht gegen Schuld und Scham, genauso wenig wie ein junger Afrikaner das