: Louise Meriwether
: Magda Birkmann, Nicole Seifert
: Eine Tochter Harlems rororo Entdeckungen
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644017948
: rororo Entdeckungen
: 1
: CHF 10.00
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein moderner Klassiker der amerikanischen Literatur, erstmals auf Deutsch, mit einem Vorwort von James Baldwin.  Harlem, 1934: Die 12-jährige Francie wächst in einem rauen Umfeld auf. Ihr geliebter Vater arbeitet als «Number Runner» im illegalen Lotteriegeschäft - besser als so manch denkbare Alternative. Francie ist eine Träumerin, doch Mädchen und Frauen in ihrer Welt haben nur begrenzte Möglichkeiten und sind ständig auf der Hut: vor den Männern, die ihnen auf Hausdächern, im Park oder im Kino auflauern, dem Bäcker, der für Zimtschnecken Gefälligkeiten verlangt, dem allgegenwärtigen Rassismus. Halt findet Francie im vertrauten Netz aus Nachbarn, Familie und Freunden. Aber die Gemeinschaft hat auch ihre Schattenseiten, wie die brutalen Straßengangs, die Macht und Kontrolle verheißen und in deren Sog Francies Bruder immer mehr gerät ... «Louise Meriwether erzählt allen, die lesen können und über Empathie verfügen, was es bedeutet, in diesem Land schwarz und eine Frau zu sein.» (James Baldwin)

Louise Meriwether, geboren 1923, war eine amerikanische Autorin, Journalistin, Essayistin und Aktivistin. Sie hat unter anderem Biografien über bedeutende afroamerikanische Persönlichkeiten wie Rosa Parks für Kinder verfasst. Ihr bekanntestes Werk, «Eine Tochter Harlems», ist in Teilen autobiografisch. Louise Meriwether starb am 10. Oktober 2023.

Teil IEine Tochter Harlems


Eins


«Letzte Nacht hab ich von Fisch geträumt, Francie», sagte Mrs Mackey, als sie die Kette zurückschob und die Tür öffnete, um mich hereinzulassen. «Welche Zahl steht in Madame Zoras Traumbuch bei Fisch?»

«Ich hab letzte Nacht auch von Fischen geträumt», rief ich aufgeregt. Vielleicht würde die Zahl ja heute gewinnen. «Ich hab geträumt, ein großer Katzenfisch ist vom Teller gehüpft und hat mich gebissen. In Madame Zoras Traumbuch steht bei Fisch fünf vierzehn.»

Ich lächelte Mrs Mackey glücklich an. Dass ich zu spät zur Schule kommen und Mrs Oliver mich wieder nachsitzen lassen würde, wenn ich hier noch länger rumstand und mit Mrs Mackey über Träume plauderte, war mir egal.

«Muss da einer noch lange rumdenken» – Mrs Mackey grinste – «wenn wir beide von Fischen träumen? Im Traum letzte Nacht geh ich zur Brücke, ein paar Brassen kaufen, und da fängts an zu regnen. Keine Tropfen, Francie, Fische. Brassen. Also halt ich einfach meinen Beutel auf und fang mir ein paar. Ist das ein Träumchen?»

Beim Lachen blies sie die Backen auf; sie sahen aus wie schwarze Pflaumen, und ich lachte mit. Bei Mrs Mackey musste man immer mitlachen, sie war so lustig und dick. Als sie zum Esstisch watschelte, musste ich ihr die ganze Zeit aufs hüpfende, breite Hinterteil gucken. Wenn Mrs Mackey auf der Straße vorbeiging, riefen die Jungs immer: «Muss Pudding sein, weil Mus nicht wackelt», und sie lachte glatt mit. Sie hatten recht. Ihr Hinterteil war ein wabbelndes, bebendes Wunder, und ich hoffte inständig, dass ich, wenn ich groß wäre, genug Speck auf dem mageren Po hätte, damit ich auch so schön damit schuckeln könnte.

Mrs Mackey setzte sich an den Esstisch, um ihren Schein auszufüllen.

«Mrs Mackey», sagte ich zaghaft, «mein Vater möchte, dass Sie bitte Ihre Zahlen schon vorher fertig ausfüllen, damit ich nicht warten muss. Ich komme immer zu spät zur Schule.»

«Alles schon tippitopp fertig, Schätzchen. Ich will nur noch fünf vierzehn dazuschreiben. Auf die setz ich ’nen Quarter, und sechzig Cent auf Kombination. Wie gehts deinem Daddy und deiner Mama?»

«Beiden gut.»

Sie drückte mir ihren Schein in die Hand, dazu zwei Dollarnoten, die ich in die Tasche meiner Matrosenbluse steckte.

«Die da sind meine letzten zwei Dollar, Francie, also bring mir heute Abend ’nen Gewinn ins Haus, hörst du? Ich wollt gar nicht so viel ausgeben, aber bei so ’nem Fischtraum wie unsere