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Unbeweglich und düster stehen sie im bläulichen Licht, das der Regen über ihnen zerstäubt, Atemwölkchen vor den Mündern werden rasch vom trägen Wind verweht, der um die Straßenbahnschienen streicht, und sie warten, etwa ein Dutzend, starr, dick eingepackt, und halten sich von dem regungslosen Mann unter der Bank fern. Sie tun so, als ob sie woandershin gucken, in die Ferne, nach einer ankommenden Bahn Ausschau halten, oder starren aufs Handydisplay, was die Gesichter fahl und hohl wirken lässt. Es ist März, und seit Tagen hüllt der Sprühregen alles in einen ungesunden, schmutzig schimmernden Glanz.
Um 6.22 Uhr hatte eine Frau die 17 gewählt und gemeldet, dass ein Typ an einer Straßenbahnhaltestelle bei der Cité des Aubiers unter einer Bank lag, trotz der Kälte nur imT-Shirt, und besagtesT-Shirt voller Blut, also, sie glaubte jedenfalls, dass es Blut war, und der Mann rührte sich nicht, vielleicht war er tot, weshalb sie, hatte sie hinzugesetzt, lieber die Polizei rief.
Bald wenden die Blicke sich dem Blaulicht des Polizeiautos und den drei Polizisten zu, die sich beim Aussteigen wie tanzende Scherenschnitte scharf vor den grellen, unregelmäßigen Lichtblitzen abzeichnen. Man sieht, wie sie sich dem offenbar leblosen Mann nähern, er dreht allem den Rücken zu, den angewinkelten Arm unterm Kopf, als ob er im Sommer, müde von der Hitze, unter einem Baum döst. Ein Polizist fragt die Frau, die am nächsten steht, ob sie die Polizei gerufen hat, sie verneint ängstlich und zieht das malvenfarbene Kopftuch tiefer in die Stirn, dann wendet sie sich ab und guckt, ob nicht schon die weißen Scheinwerfer der Tram zu sehen sind.
Ein Polizist stößt den Mann mit der Fußspitze an, beugt sich hinunter.
»Atmen tut er.«
Sein Kollege bleibt auf Abstand, eine Hand an der Waffe im Holster. Der dritte steht weiter weg. Er sieht sich um, vielleicht neugierig, als ob er zum ersten Mal im Viertel ist, die aufgetürmten Betonklötze in der Nacht, rechte Winkel, die stocksteife Arbeiterschar im Nieselregen.
»Hey! Polizei! Hoch mit dir! Hier kannst du nicht liegenbleiben.«
Das Blut auf demT-Shirt ist geronnen. Bräunliche Flecken, kackbraune Schlieren.
Der Polizist richtet die Taschenlampe auf den Kopf des Schlafenden. Er packt ein Ohr und dreht ihn herum, ein bartloses, rundes Gesicht mit Schmollmund wie ein schlafendes Baby. Er fordert ihn noch einmal auf, aufzuwachen, aufzustehen. »Polizei«, wiederholt er.
Schließlich streckt der Mann die Beine aus, der Polizist erhebt sich hastig und tritt einen Schritt zurück, während sein Kollege näher kommt.
»Also, ich hab heute noch mehr vor.«
Sein Funkgerät rauscht. Er macht Meldung.
»Wieder mal ein Säufer«, sagt er. »Wir nehmen ihn mit.«
Eine Art Feixen knistert aus dem Funk.
Langsam dreht der Mann sich auf den Rücken. Er reibt sich die Augen wie ein übermüdetes Kind. Nach und nach faltet er sich auseinander. Bei jeder Bewegung scheint er größer zu werden.
»Da haben wir einen Basketballer aufgegabelt. Der ist doch bestimmt zwei Meter.«
Der Polizist mit der Taschenlampe seufzt. Er leuchtet dem Typ ins Gesicht. Fahler Glanz durch halb geschlossene Lider.
»Los, hoch mit dir. Du kommst mal mit.«
Der Kerl windet sich unter der Bank hervor, stößt sich den Kopf und fasst sich an die Stirn, dann besieht er sich seine Finger.
»Vorsicht. Nachher heißt es noch, wir waren das.«
Sie helfen ihm, sich aufzusetzen. Grummelnd fährt die Tram ein. Neugierig aufgerissene Augen hinter den Scheiben. Der Typ lehnt sich an die Glaswand der Haltestelle, die Hände im Schoß, und schaut stumpf oder vielleicht auch gleichgültig um sich. Er stinkt nach Alkohol und Urin. Seine Jeans sind nass bis zu den Knien.
Der Lichtkreis der Taschenlampe wandert weiter über das runde, pausbäckige, feiste Gesicht. Ziemlich jung. Unter dem besudeltenT-Shirt quillt der speckige Bauch hervor. Auf dem linken Arm ein schlecht gestochenes Tattoo. Wie man sie im Knast oder bei einem feuchtfröhlichen Abend nach einer Wette kriegt. Vielleicht ein Hundekopf. Keinerlei Anzeichen von Schlägen, keine sichtbaren Verletzungen.
»Wie heißen Sie?«
Der Mann schaut zu dem auf, der ihn das fragt. Er scheint ihn nicht verstanden zu haben.
»Your name«, versucht der Polizist es wieder.
Tränen laufen über die Pausbacken. Er wendet den Blick ab, wischt sich übers Gesicht.
»Na toll, jetzt heult der auch noch.«
»Kommt vielleicht vom Suff.«
»Bringt ihn schnurstracks aufs Revier«, kommt es aus dem Funk. »Das ist was für die Police Judiciaire.«
Sie ziehen ihn hoch. Er hält sich gut auf den Beinen, schwankt kein bisschen, anders als die anderen Säufer, die sie jede Nacht auflesen. Im Stehen ist er größer als sie. Hängende Schultern, ein bisschen gebeugt. Sie fragen sich, ob sie ihm Handschellen anlegen sollen. Ja, klar, man kann nie wissen. Widerstandslos lässt er sich die Hände auf den Rücken fesseln, langsam und schwerfällig, mit leerem Blick, sinkt er auf die Rückbank.
Auf der Fahrt scheinen der schrille Rhythmus der Sirene, das Brummen des Motors ihn einzulullen, er schließt die Augen, der Kopf sinkt ihm auf die Brust und pendelt hin und her.
Im Aufzug zu den Büros der PJ lehnt er sich ans Eisengitter, groß, breit, kräftig, und guckt von oben aus halb geschlossenen, manchmal schwerfällig flatternden Lidern auf die drei Polizisten herunter. Sie atmen durch den Mund, weil der Kerl wirklich übel riecht, nicht nur nach Urin und Alkohol, der Gestank in der Kabine ist zum Schneiden, so wie bei manchen Pennern, die sie ab und zu verhaften, wenn die auf der Straße den Mond anbrüllen oder den Regen, der auf sie runterprasselt, sich wehren oder Rückspiegel zerschlagen, vor Elend wahnsinnig, dreckverkrustet, eingehüllt in einen Geruch beinahe Toter, die Körperritzen bereits von Ungeziefer zerfressen.
Der Dienstgruppenleiter, ein Brigadier namens Roland, Jérôme Roland, fragt ihn noch mal, wie er heißt, drückt ihm mit der behandschuhten Hand das Kinn hoch, damit er ihn anschaut. Zuerst starrt der Mann ihn an, wirkt erstaunt, dann huscht sein Blick in alle Richtungen, bleibt an der Decke hängen, flackert über die anderen Polizisten hinweg, als wären sie gar nicht da, vorstehende Augen voller Tränen.
Sie führen ihn in ein Büro, wo ein junger Officier de Police Judiciaire am Computer Kaffee trinkt, ein Lieutenant namens Madec; als er aufblickt und das Mondgesicht des Verdächtigen sieht, rosige Wangen, gebrochene Boxernase, sagt er, »Oha, alles klar«, reißt gleich das Fenster auf und macht einen Stuhl frei, damit sie den Riesen hinsetzen können.
»Scheiße, betrunken ist der auch noch, riecht ihr das nicht?«
Roland hat die Mütze abgenommen, wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
»Wir riechen das seit über einer Stunde, wenn du’s genau wissen willst. Wir haben die Schnauze voll. Von allem anderen übrigens auch. Ist Jourdan nicht da? Oder die anderen?«
»Die sind wegen einem Fall unterwegs. Ich halte die Stellung und kümmere mich um die Anrufe. Wo kommt denn das ganze Blut her?«
»Musst du ihn fragen. Vielleicht verrät er’s dir. Seins ist es anscheinend nicht. Ich weiß nicht mal, ob er versteht, was wir sagen. Vielleicht ist er Ausländer oder ein Vollidiot.«
Die anderen beiden feixen. »Du bist auch so ein Vollidiot«, brummt der eine.
Der Typ hängt auf dem Stuhl und schaut sich um. Er scheint aus seiner Benebelung zu erwachen. Seine Füße scharren die ganze Zeit über die Fliesen, es knirscht. Madec schnippt mit den Fingern, aber der Mann reagiert nicht. Er starrt durchs offene Fenster in den grauen Himmel, der Mund steht halb offen, und er sieht aus wie ein kompletter Trottel.
...