1. KAPITEL
Avery Shaw spürte kaum, wie die sanfte Meeresbrise ihr das hellblonde Haar ins Gesicht wehte und die durchsichtigen Schichten ihres Kleides flattern ließ. Mit großen Augen stand sie vor der Fassade des Tropicana Nights Resort und schwelgte in warmen, schemenhaften, glücklichen Erinnerungen.
Sie hob die Hand, um ihre Augen vor der flirrenden aus-tralischen Sommersonne zu schützen und nahm den Anblick in sich auf. Die Hotelanlage war größer, als sie es in Erinnerung hatte, und beeindruckender. Ein großer weißer Kolonialbau aus einer anderen Zeit, den es an den wunderschönen Strand von Crescent Cove verschlagen hatte. Der Garten war inzwischen ziemlich verwildert, die Fassade ein wenig heruntergekommen. Aber kein Wunder nach zehn Jahren.
Die Dinge änderten sich. Avery war auch keine sechzehn mehr wie damals, als sie hier einen unbeschwerten Sommer verbracht hatte.
Ein lautes Klappern und Rattern holte Avery zurück in die Gegenwart. Auf dem geschwungenen Gehweg unter ihr zischte eine Horde gebräunter Jungs in Shorts auf ihren Skateboards Richtung Strand.Und manche Dinge ändern sich nie.
Den Geschmack von Salz und Meer auf den Lippen polterte Avery samt Louis-Vuitton-Gepäck die breite Eingangstreppe hinauf und in die Lobby. Die zwei Stockwerke hohe Decke wurde von Säulen aus falschem Marmor getragen. Gemütliche Klubsessel, gigantische Teppiche, Topfpalmen und ein Fußboden aus wunderschönen, sandfarbenen Mosaikfliesen verliehen der Lobby ihren Charme. Und neben dem Bogengang zum Restaurant verkündete eine altmodische Tafel: Gratis-Hauptgericht im Capricorn Café für jeden Gast mit Augenklappe!
Ihr Lachen hallte von den Wänden wider, denn die Lobby war leer. Merkwürdig für ein Strandhotel mitten im Sommer. Aber wahrscheinlich waren alle am Pool. Oder hielten Siesta. Und nach dem ganzen Stress in Manhattan genoss Avery die Ruhe.
Weiter drinnen zeichnete sich der lange Empfangstresen aus Kalkstein ab, in dessen Seiten Wellen gemeißelt waren. Dahinter stand eine junge Frau mit dunkelrotem Haar, das sie zu einem glatten Pferdeschwanz gebunden hatte. Das Namensschild mit Tropicana-Nights-Logo hing etwas schief an ihrem ausgeblichenen gelb-blauen Hawaii-Kostüm im Stil der Siebzigerjahre.
„Ahoi!“, empfing sie die Frau, auf deren Namensschild Isis stand. Und als sie Averys Blick auf den ausgestopften Papagei auf ihrer Schulter bemerkte, kraulte sie diesen unterm Kinn. „Diese Woche ist unser Motto Piraten und Papageien.“
„Verstehe“, sagte Avery. Jetzt ergab auch die Sache mit der Augenklappe einen Sinn. „Ich bin Avery Shaw. Claudia Davis erwartet mich.“
„Yo ho ho und ’ne Buddel voll Rum… Die Amerikanerin!“
„So ist es!“ Die Begeisterung des Mädchens war ansteckend, Jetlag hin oder her.
„Claude ist schon ganz aus dem Häuschen. Ich musste stündlich die Qantas-Website checken, um ganz sicherzugehen, dass Sie wohlbehalten landen.“
„Typisch“, meinte Avery und fühlte sich gleich viel besser.
Mit ihren langen, türkisfarbenen Fingernägeln klopfte Isis an das Schlüsselbrett. „Tja, Claude könnte überall sein. Seit ihre Eltern sich aus dem Staub gemacht haben, geht es hier drunter und drüber.“
Aus dem Staub gemacht? War das Australisch fürin Rente gehen? Als Avery angerufen hatte, klang Claude, als würde sie sich freuen, das Hotel zu übernehmen, das sich seit über zwanzig Jahren in Familienbesitz befand. Sie hatte Ideen! Geniale Ideen! Die Gäste würden in Scharen kommen, wie seit Jahren nicht!
Nach einem Blick in die immer noch leere Lobby kam Avery zu dem Schluss, dass die Ideen wohl noch in der Planung waren. „Soll ich warten?“
„Oh nein“, sagte Isis und klopfte erneut an das Schlüsselbrett, „da können Sie lange warten. Gehen Sie nur auf Ihr Zimmer. Dort erwarten Sie ein paar Köstlichkeiten. Ein Mitarbeiter wird Ihnen den Weg zeigen.“
Avery sah über ihre Schulter und musste unwillkürlich an die gut gemeinten Ratschläge ihrer Freundinnen denken, sich in Australien einen heißen, durchtrainierten, jungen Kofferträger zu angeln.
Der Junge, der auf sie zukam, konnte keinen Tag älter als siebzehn sein. Aber dieser Typ mit seinem leuchtend roten Haar, einer ganzen Galaxis Sommersprossen und hängenden Schultern in Hawaiihemd, der einen schwarzen Piratenhut trug, war wahrscheinlich nicht ganz das, woran ihre Freundinnen gedacht hatten.
„Cyrus“, sagte Isis, einen drohenden Unterton in der Stimme.
Cyrus blieb stehen und blickte auf. Dann grinste er, und es war unverkennbar, dass er und Isis verwandt waren.
„Das ist Mrs. Shaw“, erklärte Isis, „Claudias Freundin.“
„Danke, Cyrus“, sagte Avery und hievte ihr Gepäck auf den goldenen Kofferwagen neben der Rezeption, da Cyrus sich nicht rührte, sondern sie nur mit offenem Mund anstarrte.
„Hättest du wohl die Güte, Mrs. Shaw zur Tiki-Suite begleiten?“, bat Isis schnippisch.
Averys Gepäck schwankte bedenklich, als Cyrus den Kofferwagen ans andere Ende der Lobby schob.
„Sie sind die Frau aus New York“, sagte er.
„Ich bin die Frau aus New York“, bestätigte Avery, die sich beeilen musste, um Schritt zu halten.
„Wie haben Sie Claude kennengelernt? Sie fährt doch nie irgendwohin“, sagte Cyrus, der plötzlich ste