1. KAPITEL
Olivia Coates-Clark gab einer Schwester ein Zeichen, damit sie ihr die Stirn abtupfte. Das Kitzeln störte sie schon seit einigen Minuten. „Liegt es an mir, oder ist es im OP heute Morgen wärmer als sonst?“
„Ich merke nichts“, antwortete Kay, die Anästhesistin, während sie die Monitore beobachtete. „Vielleicht bist du wegen heute Abend gestresst, Olivia?“
„Ich? Gestresst?“ Sie verzog unter der Maske das Gesicht. Sie war ein Kontrollfreak. Natürlich war sie gestresst. „Okay, setzen wir das zweite Implantat ein.“
„Also ist für die Spendengala alles fertig?“ Kay ließ nicht locker.
„Daumen drücken“, murmelte Olivia. Sie wollte nicht daran denken, was schiefgehen konnte. Auf ihrer Liste waren Häkchen neben jedem Auftrag und Lieferanten sowie neben den Namen aller Teilnehmenden, einschließlich des Blindenhunds eines Gasts.
„Ich bin gestern Zac über den Weg gelaufen. Er freut sich darauf, alle wieder zu treffen.“
Olivia ließ sich von Kays bemüht gleichgültigem Ton nicht täuschen. „So geht es wahrscheinlich allen.“ Die Narkoseärztinwar darauf gekommen, warum ihr so heiß war. Zachary Wright. Allein bei dem Gedanken daran, dass sie ihn bei der Veranstaltung sehen würde, die sie wochenlang organisiert hatte, erschauerte sie vor unerwünschter Vorfreude. Und dann war da noch diese ungewohnte Nervosität. „Zac“, seufzte Olivia in ihre Maske. Der eine Mann, den sie nicht vergessen konnte. Und sie hatte es wirklich versucht!
„Soll ich Ihnen noch einmal die Stirn abtupfen?“, fragte die Schwester.
„Nein, danke.“ Das nervte sie nicht mehr, und das andere – Zac – würde sie ignorieren, indem sie sich darauf konzentrierte, den Assistenzarzt zu überwachen, während er die Expanderprothese auf der linken Seite von Anna Seddons Brust einsetzte.
Er hatte so genau beobachtet, was sie auf der rechten Seite machte, als würde sein Leben davon abhängen. Und das tat es auch. Ein einziger Fehler, und Olivia würde ihm gewaltig aufs Dach steigen. Bis jetzt leistete er bei der zweiten Expanderprothese jedoch hervorragende Arbeit. „Achten Sie darauf, dass sie genauso liegt wie die erste. Keine Frau wird Ihnen für schiefe Brüste danken.“ Dies war zwar nur die erste Operation, um Annas Brüste wiederaufzubauen, aber es musste gut gemacht werden.
Der Mann sah nicht auf, als er sagte: „Ich hab’s verstanden. Hier geht es ebenso sehr um Aussehen und Selbstvertrauen wie um Krebsvorbeugung.“
„Dafür zu sorgen, dass sich ein Mensch wohler fühlt, ist unsere Stellenbeschreibung.“ Sie war eine Chirurgin geworden, die Menschen wiederherstellte, die bei Unfällen oder durch Operationen entstellt worden waren. Aber sie kritisierte die Fachärzte für plastische Chirurgie nicht, die Menschen unter weniger traumatischen Umständen glücklich machten. Jeder hatte das Recht, sich wohlzufühlen, sich zur Not hinter einem perfekten Äußeren zu verstecken.
Für Olivia war es lebenswichtig, besonders schön auszusehen: Es verlieh ihr Selbstbewusstsein, war ein Schutzschild, seit ihr Vater die Familie verlassen hatte, als sie zwölf war. Er hatte seine Kleidung, sein Auto und ihr Herz mitgenommen und es ihr überlassen, mit den Problemen ihrer Mutter fertigzuwerden.
„Ich sehe nicht zum ersten Mal eine gesunde Frau, die sich ihre Brüste abnehmen lässt, aber ich kapiere es noch immer nicht“, sagte Kay. „Ich weiß nicht, ob ich den Mumm hätte, wenn ich noch gar nicht Krebs habe.“
Olivia verstand sie nur allzu gut, bloß … „Wenn du deine Großmutter und eine Schwester an die Krankheit verloren hättest und deine Mutter Brustkrebs gehabt hätte, würdest du vielleicht anders denken.“
„Ich würde alles tun, um meine Kinder aufwachsen zu sehen“, sagte eine von den Schwestern.
„Ja, Sie haben recht. Das würde ich auch.“ Kay schauderte. „Trotzdem, es ist eine ungeheure Entscheidung. Da wünscht sich eine Frau, dass ihr Mann ihr zur Seite steht.“
„Annas Ehemann ist toll. Ich würde so weit gehen, ihn einen Helden zu nennen. Er unterstützt sie voll und ganz.“ Olivia fragte sich, ob sie noch bei Sinnen war. Helden gab es in Romanen und Filmen, nicht im wirklichen Leben. Jedenfalls nicht oft, und nicht in ihrem Leben. Nicht, dass sie einen hineinlassen würde, wenn sich einer anbieten würde.
Plötzlich sah sie im Geiste