Grenzfälle oder Ein Kapitel mit lauter Fragen
Von einem verantwortungsbewussten Menschen erwartet man, dass er ehrlich ist. Und dass er keinesfalls lügt. Lügen – was versteht man unter diesem Begriff?
Der Schweizer Dichter Gottfried Keller, ein Pädagoge von Großformat, obwohl (oder weil?) Junggeselle, vermag uns auf die Sprünge zu helfen. In seiner NovelleFrau Regel Amrain und ihr Jüngster geht es unter anderem um die Erziehung zur Wahrhaftigkeit.
Wie schwer merken die wackeren Erziehungsleute ein früh verlogenes und verblümtes inneres Wesen an einem Kinde, während sie mit höllischem Zeter über ein anderes herfahren, das aus Übermut oder Verlegenheit ganz naiv eine vereinzelte derbe Lüge gesagt hat. Denn hier haben sie eine greifliche bequeme Handhabe, um ihr donnerndes Du sollst nicht lügen! dem kleinen erstaunten Erfindungsgenie in die Ohren zu schreien. Wenn Fritzchen eine solche derbe Lüge vorbrachte, so sagte Frau Regel einfach, indem sie ihn groß ansah: »Was soll denn das heißen, du Affe? Warum lügst du solche Dummheiten? Glaubst du, die großen Leute zum Narren halten zu können? Sei du froh, wenn dich niemand anlügt, und lass dergleichen Späße!« Wenn er eine Notlüge vorbrachte, um eine begangene Sünde zu vertuschen, zeigte sie ihm mit ernsten, aber liebevollen Worten, dass die Sache deswegen nicht ungeschehen sei, und wusste ihm klarzumachen, dass er sich besser befinde, wenn er offen und ehrlich einen begangenen Fehler eingestehe; aber sie baute keinen neuen Strafprozess auf die Lüge, sondern behandelte die Sache, ganz abgesehen davon, o