Bindung zu Tieren Psychologische und neurobiologische Grundlagen tiergestützter Interventionen
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Henri Julius, Andrea Beetz, Kurt Kotrschal, Dennis C. Turner, Kerstin Uvnäs-Moberg
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Bindung zu Tieren Psychologische und neurobiologische Grundlagen tiergestützter Interventionen
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Hogrefe Verlag GmbH& Co. KG
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9783840924941
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1
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CHF 24.50
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Psychologie
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German
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237
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Wasserzeichen/DRM
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PDF
Die uralte Beziehung zwischen Mensch und Tier hat in jüngerer Zeit durch den Einsatz von Tieren in Therapie und Pädagogik neues Interesse geweckt. Tiergestützte Interventionen nutzen die Beziehung zwischen Mensch und Tier, um psychische Gesundheit zu fördern und die soziale, emotionale und sogar kognitive Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu unterstützen. Aber warum sind Menschen und Tiere überhaupt in der Lage, Beziehungen einzugehen? Warum kann diese Beziehung einen therapeutischen Effekt haben? Und wie lässt sich dieses Wissen für die Praxis tiergestützter Interventionen nutzen? In diesem einzigartigen Buch haben führende Fachleute aus Psychologie, Neurobiologie und Evolutionsbiologie aktuelle Wissensbestände ihrer Fachrichtungen integriert, um diese Fragen zu beantworten. Zusammen haben sie ein wissenschaftliches Erklärungsmodell entwickelt, das die bisherigen Daten erklärbar macht und die weitere Entwicklung, Implementation und Evaluation effektiver, tiergestützter Interventionen ermöglicht.
Immer mehr Ergebnisse weisen darauf hin, dass das Oxytocin-System als neurobiologische Basis von Bindung und Fürsorge eine zentrale Rolle spielt. Diesem Zusammenhang ist das sechste Kapitel gewidmet. Durch den engen Körperkontakt wird sowohl beim Baby als auch bei der Mutter Oxytocin freigesetzt, wodurch Angst und Stress reduziert, sowie soziale Interaktionen zwischen Mutter und Kind angebahnt und erleichtert werden. Es ist anzunehmen, dass im Verlauf der weiteren Entwicklung eines Kindes Oxytocin nicht nur in der Gegenwart und durch den Kontakt zur primären Bindungsfigur freigesetzt wird, sondern potenziell auch zu anderen Fürsorgepersonen, wie z. B. Lehrern oder Kindergärtnerinnen.
Sicher gebundene Kinder entwickeln deshalb wahrscheinlich einen guten „Tonus“ bzw. eine adaptive Regulation ihres Oxytocin-Systems. Komplementär scheinen Bindungsfiguren, die adäquates Fürsorgeverhalten zeigen, ebenfalls über eine gute Regulation ihres Oxytocin-Tonus zu verfügen, während maladaptives Fürsorgeverhalten wahrscheinlich mit einem Ungleichgewicht im Oxytocin-System einhergeht.
Bei unsicher gebundenen Kindern löst die Bindungsfigur keine adäquate Freisetzung von Oxytocin aus. Auch deshalb wird sie eher nicht in der Lage sein, das Kind zu beruhigen und dessen Stress zu reduzieren. Bindungsfiguren von desorganisierten Kindern können selbst zur Stressquelle für ihre Kinder werden, da sie häufig misshandelnd oder vernachlässigend sind. Solche Bindungsfiguren sind nicht nur unfähig, Angst und Stress beim Kind zu reduzieren, sie aktivieren stattdessen die entgegengesetzten, neurobiologischen Systeme (d. h. die Stresssysteme). Aus der Perspektive des Kindes ist dies hochgradig adaptiv, da die Stress-Systeme das Kind in Alarmbereitschaft versetzen und es auf potenzielle Gefahren vorbereiten. Zudem macht es Sinn, dass betroffene Kinder Angst vor ihren Bindungsfiguren entwickeln und ihnen nicht mehr vertrauen, was sich neurobiologisch in einem niedrigen Oxytocin-Niveau widerspiegeln dürfte. Sowohl das Bindungsverhalten als auch die darunter liegenden, neurobiologischen Systeme würden sich somit an die potenziell pathogenen Bedingungen elterlicher Vernachlässigung und Gewalt anpassen. Diese Adaptation sichert das „psychische Überleben“ des Kindes, welches so das Beste aus einer schlechten Situation macht. Dies ist allerdings eine teuer bezahlte Anpassung. Denn ein Kind, das seine primären Bindungsfiguren mit Zurückweisung oder gar Gefahr assoziiert, wird sich in emotional belastenden Situationen auch kaum an alternative, sensitive und vertrauenswürdige Fürsorgepersonen wenden. Damit besteht ein hohes Risiko für die weitere psychische Entwicklung eines Kindes.
Da Bindung und Fürsorge offenbar eng mit dem Oxytocin-System verknüpft sind, und die positiven Effekte von Oxytocin mit den vermuteten, positiven Effekten von Mensch-Tier-Beziehungen überlappen, diskutieren wir im siebten Kapitel, ob sich Mensch-Tier-Beziehungen auch als Bindungsund Fürsorgebeziehungen konzeptualisieren lassen.
Zwar ist das Bindungsals auch das Fürsorgekonzept für den Geltungsbereich zwischenmenschlicher Beziehungen entwickelt worden. Legt man jedoch die Kriterien zugrunde, die eine Beziehung als Bindungsoder als Fürsorgebeziehung qualifizieren, so lässt sich daraus ableiten, dass Menschen auch Bindungsund Fürsorgebeziehungen zu Tieren eingehen können. Tatsächlich stützen erste empirische Daten diese Annahme. Weiterhin weisen die bisherigen Untersuchungen darauf hin, dass unsichere Bindungsund Fürsorgemuster, die in zwischenmenschlichen Beziehungen gründen, nicht unbedingt mit den Bindungsund Fürsorgemustern korrespondieren, die Menschen zu ihren Haustieren entwickeln. In Risikostichproben mit einer Quote von nur 20 % sicher gebundenen Menschen ist beispielsweise die Prävalenz sicherer Bindung und Fürsorge gegenüber einem Haustier bis zu viermal höher als gegenüber Menschen. Die unsicheren Bindungsund Fürsorgemuster, die in zwischenmenschlichen Beziehungen erworben wurden, scheinen also in der Beziehung zu einem Haustier kaum aktiviert zu werden. Das ist von großer Bedeutung, werden doch sowohl Bindungsals auch Fürsorgemuster normalerweise auf neue, zwischenmenschliche Beziehungen übertragen. Insbesondere für desorganisiert gebundene Kinder ist das tragisch, da das Persistieren dieses Bindungsmusters ihre weitere, psychische Entwicklung stark einzuschränken vermag.
Wenn Menschen relativ unabhängig von ihren zwischenmenschlichen Bindungsmustern, sichere Bindungsund Fürsorgebeziehungen zu Tieren eingehen können, dann kann man annehmen, dass solche Mensch-Tier-Beziehungen sich auch in einem verbesserten „Tonus“ bzw. einer adaptiven Funktion des Oxytocin-Systems einschließlich der damit einhergehenden, positiven Effekte, widerspiegeln. Empirische Evidenzen für diese Annahmen werden im achten Kapitel vorgestellt und diskutiert.
Die neuroendokrinologischen Effekte, die mit Mensch-Tier-Beziehungen einhergehen, fördern Annäherungsverhalten und Vertrauen in andere, während Stress und soziale Ängstlichkeit reduziert werden. Die Mensch-Tier-Interaktion birgt somit ein großes therapeutisches und pädagogisches Potenzial, und zwar insbesondere für jene Menschen, die ein primär unsicheres oder desorganisiertes Bindungsmuster aufweisen. Unsicher und desorganisiert gebundenen Menschen dürfte es während der Interaktion mit einem Therapiet
Vorwort/Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
11
1 Die rätselhafte Beziehung zwischen Menschen und Tieren
15
2 Warum Menschen willens und fähig sind, Beziehungen zu Tieren aufzunehmen: Die evolutionäre Werkzeugkiste
22
3 Psychische und physiologische Effekte von Mensch-Tier-Interaktionen
55
4 Physiologie der Beziehung: Die integrative Funktion von Oxytocin3
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5 Zwischenmenschliche Beziehungen: Bindung und Fürsorge
108
6 Die physiologische Basis von Bindung und Fürsorge
137
7 Mensch-Tier-Beziehungen: Bindung und Fürsorge
166
8 Die Stränge kommen zusammen: Physiologie der Bindung und Fürsorge in der Mensch-Tier-Beziehung
179
9 Praktische Implikationen
186
Literatur/Sachregister
199
Sachregister
235