: Wolfgang Kraushaar
: Keine falsche Toleranz! Warum sich die Demokratie stärker als bisher zur Wehr setzen muss
: CEP Europäische Verlagsanstalt
: 9783863936419
: 1
: CHF 18.10
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: Politik
: German
: 606
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Das ist ein wichtiges Buch.' Gerhart Baum Der Neonazismus, so Wolfgang Kraushaar, ist längst noch nicht überwunden und stellt die Demokratie vor neue Herausforderungen. Diese werden nur dann zu bestehen sein, wenn sich Staat und Zivilgesellschaft neu positionieren. Die Vorstellung, wehrhaft sein zu müssen, wirkte lange wie aus der Zeit gefallen. Dass sie ins Zentrum der politischen Debatte zurückgekehrt ist, liegt vor allem an Putins Überfall auf die Ukraine und seinen menschenverachtenden Annexionskrieg. Mit der erneuerten Wehrhaftigkeit nach außen geht allerdings einher, die Wehrhaftigkeit auch nach innen auf den Prüfstand zu stellen. Denn im Unterschied zu früheren Jahrzehnten hat die Bedrohung von rechts unablässig zugenommen. Zwei politische Faktoren prägen das neue Gefährdungsszenario: Parlamentarisch ist mit der AfD eine starke rechtspopulistische Partei im Bundestag vertreten, die sich offen gegen die liberale Demokratie stellt. Und im Zuge der Anti-Corona-Demonstrationen hat die radikale Rechte so sehr an Einfluss gewonnen, dass sich ihr neue machtpolitische Optionen bieten. Durch diese beiden Elemente ist die Demokratie regelrecht in die Zange genommen worden. Angesichts dieser Herausforderung erscheinen mehrere strukturelle Korrekturen erforderlich, um das Konzept einer 'wehrhaften Demokratie' so weit zu erneuern, dass die Bundesrepublik künftig besser gegen derartige Angriffe gewappnet ist. Dabei gilt es insbesondere der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Gefährdung der Demokratie nicht mehr in erster Linie von den Rändern der Gesellschaft ausgeht, sondern von ihrer Mitte. Kraushaar plädiert deshalb dafür, die statische Theorie von Extremismus durch eine dynamische der Radikalisierung zu ersetzen. Erst wenn das geschehen ist, wird die zweite deutsche Demokratie besser als bisher in der Lage sein, sich auch in Zeiten einer multifaktoriellen Krise als wehrhaft zu erweisen.

Wolfgang Kraushaar, geb. 1948, arbeitete bis 2015 als Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung und forscht seitdem an der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur über Protestbewegungen sowie die RAF und den internationalen Terrorismus. 2004 nahm er eine Gastprofessur an der Beijing Normal University wahr, zudem Lehraufträge an den Universitäten Hamburg, Berlin (FU) und Zürich. Einen Namen hat er sich insbesondere mit der Historisierung der 68er-Bewegung und des linken Terrorismus gemacht. Zu seinen wichtigsten Werken zählen Die Protest-Chronik (1996), Frankfurter Schule und Studentenbewegung (1998), Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus (2010) und Die 68er-Bewegung international (2018).

Einleitung


Zu der umgreifenden Verunsicherung, die die Corona-Pandemie in der Gesellschaft auslöste, kam schon bald eine massive politische Irritation hinzu. Von Stuttgart aus traten seit dem Frühjahr 2020 Gegner der staatlichen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz in Erscheinung, die sichQuerdenker nennen und seitdem bundesweit Protestaktionen organisieren. Der anfangs sträflich unterschätzten Bewegung gelang es nach nur wenigen Wochen eine Mobilisierung zustande zu bringen, wie man sie sich in der Bundesrepublik unter den Rahmenbedingungen der Covid19-Krise nicht hatte vorstellen können.

Das öffentliche Echo war von Anfang an tief gespalten. Während Kritiker, darunter auch Linke und Liberale, die Demonstrationen zumeist unter Berufung auf verschiedene Grundrechte mit dem Argument zu verteidigen suchten, dass es in Zeiten eines Ausnahmezustandes möglich sein müsse, die von der Bundesregierung verhängten Anordnungen in Frage zu stellen, reagierten konservative, liberale und zum Teil auch sozialdemokratische Kritiker abwehrend und meinten, dass mit derartigen Protesten die Solidarität in der Bevölkerung untergraben und durch den mangelnden Infektionsschutz zudem deren Gesundheit unnötig gefährdet werde.1

Die versuchte Reichstagserstürmung durchQuerdenker


Bemerkenswerterweise erreichte die Beteiligung an den Anti-Corona-Protesten genau in jenen Wochen ihren Höhepunkt, als die Inzidenzzahlen noch am niedrigsten waren und sich nicht wenige in der Illusion bewegten, dass die Pandemie bereits im Verschwinden begriffen sein könnte. Am 1. und am 29. August 2020 versammelten sich jeweils Hunderttausende in Berlin.2 Die zweite Manifestation konnte nur stattfinden, weil das zuständige Verwaltungsgericht ein vom Berliner Innensenator verhängtes Demonstrationsverbot aufgehoben hatte und diese Entscheidung vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in zweiter Instanz bestätigt worden war. Der SPD-Politiker Andreas Geisel hatte den Veranstaltern zum Vorwurf gemacht, dass sie bei ihrer ersten Großdemonstration die mit der Polizei zuvor vereinbarten Abstands- und Mund-Nasen-Schutzregelungen bewusst gebrochen hätten. Den aus Stuttgart stammenden OrganisatorenInitiative Querdenken 711 ginge es gar nicht um die Ablehnung der Corona-Maßnahmen. In Wirklichkeit richteten sich ihre Protestaktionen gegen die Verfassung; „unter dem Deckmantel der Versammlungs- und Meinungsfreiheit“ versuchten sie, das demokratische System „verächtlich zu machen“. Und nur zu bald stellte sich heraus, dass Geisel mit seiner Prognose wohl nicht so ganz verkehrt gelegen hatte.

Denn bei einer Protestversammlung vor der Unter den Linden gelegenen Botschaft der Russischen Föderation, in deren Verlauf es wegen militanter Übergriffe auf die Polizei zu 200 Festnahmen gekommen war, erklärte der Gründer derQuerdenken 711-Gruppierung Michael Ballweg, dass das Grundgesetz ausgehöhlt sei. Nicht der Bundestag, sondern der Souverän müsse die Macht übernehmen. Man wolle deshalb „an einer