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Da war keine Fliege, und es hätte eine Fliege da sein sollen. Der Raum sah danach aus. Graues Linoleum. Kittfarbene Wände. Stühle und Tische mit Stahlrohrbeinen. In solchen Räumen gab es auch immer eine Fliege, die langsam an der Fensterscheibe hinauf- und hinuntersurrte. Hinauf und hinunter. Hinauf und hinunter. Hinauf.
Die hintere Wand war mit Magnettafeln und Pinnwänden bedeckt. Namen. Daten. Orte. Dann kam:
Zeugen (Leerstelle)
Verdächtige (leer)
Spuren (leer)
Für jeden Fall.
Im Konferenzraum der Kriminalpolizei von North Riding befanden sich fünf Menschen, die bereits seit über einer Stunde auf die Tafeln starrten. Detective Chief Inspector Simon Serrailler hatte das Gefühl, schon sein halbes Leben lang auf eines der Fotos gestarrt zu haben. Das strahlende junge Gesicht. Die abstehenden Ohren. Die Schulkrawatte. Das frisch geschnittene Haar. Der Ausdruck. Interessiert. Wach.
David Angus. Es war acht Monate her, seit er morgens vor dem Tor seines Elternhauses um zehn Minuten nach acht verschwunden war.
David Angus.
Simon wünschte sich, es gäbe eine Fliege, die ihn hypnotisierte, statt des Gesichts des kleinen Jungen.
Der Anruf von Detective Chief Superintendent Jim Chapman hatte ihn zwei Tage zuvor aus einem herrlichen Sonntagnachmittag herausgerissen.
Simon hatte auf der Bank gesessen, mit Pads und Helm, und darauf gewartet, für die Polizei Lafferton gegen das Kreiskrankenhaus Bevham zu schlagen. Die Scorecard zeigte228 für5, die Bowler der Ärzte waren schlaff, und Simon glaubte, sein Team würde das Innings vorzeitig beenden, bevor er an die Reihe käme. Er war sich nicht sicher, ob ihm das etwas ausmachte oder nicht. Er spielte gerne, obwohl er nur ein durchschnittlicher Cricketspieler war. Aber an einem solchen Nachmittag, auf einem so schönen Spielfeld war er zufrieden, ob er nun zum Schlagen kam oder nicht.
Die Mauersegler schossen kreischend hoch über das Klubhaus, und die Schwalben glitten am Spielfeldrand entlang. Während der letzten Monate war Simon niedergeschlagen und ruhelos gewesen, aus keinem besonderen Grund und doch aus einer Unmenge von Gründen, aber die Freude am Spiel und die Aussicht auf eine angenehme Teepause im Klubhaus hatten seine Stimmung gehoben. Später war er zum Essen bei seiner Schwester und deren Familie eingeladen. Ihm fiel ein, was sein Neffe Sam letzte Woche gesagt hatte, als sie zusammen schwimmen waren; Sam hatte mitten in der Bahn angehalten und war mit einem »Heute ist einguter Tag!« aus dem Wasser gesprungen.
Simon lächelte in sich hinein. Wie Kinder sich doch freuen konnten.
»Naaaaaaa?«
Der Schrei verklang. Der Batsman war in Sicherheit und kurz vor seinen hundert Runs.
»Onkel Simon, hey!«
»Hallo, Sam.«
Sein Neffe kam zur Bank gerannt. Er hielt das Handy in die Höhe, das Simon ihm in Verwahrung gegeben hatte, falls er schlagen musste.
»Anruf für dich.DCS Chapman, Kriminalpolizei North Riding.« Sams Gesicht war von Besorgnis überschattet. »Ich dachte, ich sollte besser fragen, wer dran ist …«
»Das ist vollkommen in Ordnung. Hast du gut gemacht, Sam.«
Simon stand auf und ging um die Ecke des Klubhauses.
»Serrailler.«
»Jim Chapman. Ein neuer Mitarbeiter?«
»Mein Neffe. Ich habe meine Pads an, bin als nächster Batsman dran.«
»Schön für Sie. Es tut mir leid, Sie am Sonntagnachmittag zu stören. Sehen Sie eine Möglichkeit, in den nächsten paar Tagen hier heraufzukommen?«
»Das vermisste Kind?«
»Mittlerweile seit drei Wochen, und wir haben nichts.«
»Ich könnte morgen am frühen