1.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs war. Sie wusste erst recht nicht, wohin. Etwas trieb sie voran, immer und immer weiter.
Straßen. Häuser. Felder. Wiesen. Ab und zu ein Wald.
Längst befand sich ihr Körper im Ausnahmezustand. Jeder einzelne Muskel schmerzte, kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Der Hunger war kaum noch spürbar, aber der Durst brachte sie fast um.
In einem kleinen Ort, dessen Häuser still im gleißenden Sonnenlicht standen, stieß sie auf einen Brunnen. Mitten auf dem leeren Marktplatz warf sie sich über seinen Rand und trank wie eine Verdurstende. Sie benetzte ihr Gesicht mit dem erfrischenden Wasser und kühlte sich die Handgelenke. Wie gut das tat …
Kein Mensch war zu sehen. Verlassen lagen die Geschäfte da. Sie drehte sich um sich selbst, um sich zu orientieren, doch nichts von dem, was sie erblickte, schien ihr vertraut. Dünn schlug die Uhr im Rathausturm.
Eins. Zwei. Drei.
Ein Sommernachmittag. Das war die einzige Gewissheit, die sie besaß. Es war drei Uhr an einem heißen Sommernachmittag, und sie befand sich auf dem Marktplatz eines Ortes, in dem sie offenbar noch nie gewesen war. Sicherlich stand der Name auf einem Ortsschild, an dem sie vorbeigekommen sein musste, doch sie hatte ihn entweder nicht wahrgenommen oder wieder vergessen.
Sie hätte sich gern auf dem Brunnenrand niedergelassen, eine Hand ins Wasser getaucht und sich ausgeruht. Doch da traten plötzlich Menschen ins Bild, vier Mädchen, die schwatzend und lachend mit ihren Handys beschäftigt waren.
Sofort setzte sie sich wieder in Bewegung. Sie wich den Mädchen aus, um jede Berührung mit ihnen zu vermeiden, nahm aus den Augenwinkeln einen Mann wahr, dessen Gestalt so dunkel war wie sein Schatten. Schmeckte die Panik, die schon seit einer geraumen Weile in ihr gelauert hatte, auf der Zunge.
Geduckt verließ sie den Marktplatz und floh.
Vor was?
Vor wem?
Warum?
Wie konnte man eine solche Angst haben, ohne ihre Ursache zu kennen?
Sie hatte den kleinen Ort längst wieder verlassen, als ihr einfiel, dass sie ein weiteres Mal nicht auf seinen Namen geachtet hatte.
*
hab dir meine liebe gezeigt
und es vergeigt
hast meine gefühle ignoriert
mich kaltlächelnd abserviert
grausamer engel
Verärgert klappte Marvin Rauschenbach den Laptop zu, als er Schritte hörte, die sich auf dem Flur näherten. Doch dann entfernten sie sich in Richtung Fahrstuhl und er klappte den Laptop wieder auf.
Man durfte ihm jederzeit über die Schulter sehen, jedoch nicht bei dem hier.
im schatten deiner flügel so kalt
eis im herzen
überall schmerzen
lieben oder hassen
nichts dazwischen
ist es so schwer
sich lieben zu lassen
hab mich verlorn auf dem weg zu dir
bin nicht angekommen und nicht mehr