ZWEI
Juni 1962
Marie war schon fast aus der Küche, da fiel ihr Blick auf den Brotkasten, an dem ein heller Umschlag lehnte.
»Ist schon vorgestern angekommen«, sagte ihre Mutter und legte das Silberpoliertuch zur Seite. Feiertage wie diesen nutzte sie gern zu umfangreicheren Hausarbeiten, zu denen ihr sonst die Zeit fehlte, allerdings nicht ohne sich dabei lauthals darüber zu beklagen, dass immer alles an ihr hängen blieb. »Ich muss den Brief ganz in Gedanken eingesteckt haben. Klär mich doch bitte mal auf: Wer oder was ist dieser Absender –DJ?«
Deutsche Journalistenschule.
Die Antwort war da!
Marie wurde heiß und kalt zugleich, als sie das Schreiben hastig an sich nahm. Jetzt musste sie nur noch zusehen, die Wohnung so schnell wie möglich zu verlassen, um es ungestört lesen zu können.
»Nichts Wichtiges«, erwiderte sie und war froh, dass ihre Stimme halbwegs normal klang. »Allerdings wäre es mir lieb, wenn ich meine Post zukünftig gleich bekommen könnte.«
»Musst du dich jetzt bei allem aufregen, was von mir kommt?« Maries Mutter klang vorwurfsvoll. »Manchmal weiß ich ja kaum noch, was ich sagen soll! Ich erkenne dich gar nicht wieder, Marie. Wir haben uns doch immer so gut verstanden. Was ist nur in dich gefahren?«
Ja, das Eis, auf dem die beiden Frauen sich bewegten, war nach jener Nacht im Kolibri dünn geworden, und hätte Karin Graf gewusst, dass die Tochter seitdem so manchen Nachmittag keineswegs vor pharmazeutischen Versuchsanordnungen, sondern im gemütlichen Café Schneller hinter der Uni verbrachte, wäre es garantiert längst eingebrochen. Marie liebte diese gestohlenen Stunden in dem leicht dämmrigen Café, wo eigentlich nur noch ihre Schreibmaschine fehlte, um sich dort vollständig glücklich zu fühlen. Aber sie hatte stets ihr Notizbuch dabei, in das sie kleine Beobachtungsskizzen notierte, um sie später zu Hause weiter auszubauen. Es wimmelte hier nur so von skurrilen Persönlichkeiten – wie der Mann in den bunten Frauenkleidern, der mit Falsettstimme Lieder vortrug, oder die alte Dame, die erstaunliche Ähnlichkeit mit ihren beiden Möpsen besaß und sich lautstark mit ihnen in einer Fantasiesprache unterhielt.
Was hätte Maries Mutter wohl dazu gesagt?
Jetzt verplemperst du auch noch deine Zeit mit sinnlosem Herumsitzen oder etwas Ähnliches wahrscheinlich, daher sollte sie besser nichts davon erfahren.
»Ich mach mich jetzt auf den Weg zu Onkel Julius«, sagte Marie. »Wartet nicht auf mich. Könnte spät werden.«
»Aber wir wollten ihn doch ohnehin am Sonntag alle zusammen besuchen …«, hörte sie noch im Gehen.
Draußen schwang Marie sich auf ihr Fahrrad und fuhr los, langsamer als sonst, denn es war drückend heiß. Am Nymphenburger Kanal hielt sie an und suchte sich beim Hubertusbrunnen eine freie Parkbank im Schatten. Mit zitternden Händen riss sie den Brief auf.
»… müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass Sie nicht unter den Kandidaten für die nächste Bewerbungsrunde sind …«
Sie musste die knappen Zeilen ganze drei Mal lesen, erst dann war ihr Gehirn in der Lage, die schlechte Nachricht aufzunehmen.
Der Brief sank auf ihren Schoß.
Wie hatte sie sich nur einbilden können,