Frida
Zur Beruhigung nahm ich Liv mit an den Strand. Nach dem sonnigen Nachmittag kam Wind auf und trieb Wolken von der Ostsee herein. Grau wie Blei lagen das Wasser und der Sand vor uns. Es war das perfekte Wetter für meine Stimmung.
Beinahe hätte ich mich von Jannis’ Gerede einlullen lassen. Die Pferde hatten es jetzt besser, klar! Er war einfach wie alle anderen Turnierreiter. Ihm ging es um den Sport und nicht darum, was den Pferden guttat. Arme Dari. Da musste sie sich den ganzen Tag über einsperren lassen, nur um ein paar Stunden auf diesem trostlosen Paddock zu stehen – allein wahrscheinlich noch! – und nachmittags über irgendwelche Hindernisse zu springen. Kein Wunder, dass sie so angespannt wirkte. Und trotzdem war sie zutraulich und aufmerksam. Wusste Jannis überhaupt, was für ein Pferd er da hatte? Wahrscheinlich nicht. Den interessierten ja nur Leistungsklassen und Platzierungen.
Der Wind frischte auf und sprühte mir ein paar Tropfen Regen ins Gesicht. Liv merkte natürlich, dass ich nicht bei der Sache war, und schüttelte den Kopf, also atmete ich tief durch und konzentrierte mich auf ihren Rhythmus.
Wir trabten eine Weile durch die Dünung, dann galoppierten wir an und zogen den Möwen davon. Es half – bald hatte ich nichts weiter im Kopf als die Wellen und den Sand und Livs geschmeidige Sprünge. Der Wind peitschte mir ihre lange Mähne ins Gesicht, doch wir hatten heute beide nicht vor, klein beizugeben.
In einem weiten Bogen wendete ich Liv, aber wir hielten das Tempo bis kurz vor dem Strandaufgang. Als ich sie zum Schritt durchparierte, war mir ziemlich warm geworden, und Livs Hals war feucht, doch ich konnte spüren, dass sie am liebsten gleich noch mal losgeprescht wäre.
Ich kraulte ihren Mähnenkamm. »Für heute reicht es, Mädchen. Das war toll.«
Nach und nach wurde ihr Schritt entspannter, sie dehnte den Hals und schnaubte zufrieden ab. Mit dem Wind im Rücken machten wir uns auf den Heimweg.
*
Der Tisch war schon halb gedeckt, als ich in die Küche kam.
»Hallo, Küken«, begrüßte mich Theo, den ich heute noch gar nicht gesehen hatte. Keine Ahnung, was der während seiner Semesterferien tagsüber machte.
»Hallo«, sagte ich, zu ausgepowert, um mir eine schlagfertige Antwort einfallen zu lassen. Ich griff über die Kücheninsel und stibitzte Papa einen Käsewürfel vom Schneidebrett.
Mama sah von irgendwelchen Unterlagen auf. »Hallo, Schatz. Wie war’s am Strand?«
»Windig.« Ich nahm die Teller, die auf der Anrichte standen, und verteilte sie auf dem Tisch, während Theo Wassergläser füllte.
Mama stellte sich neben mich und legte mir den Arm um die Schultern. »Schlechten Tag gehabt?«
Ich lehnte mich kurz an sie. »Ging so. Bis auf den Montag ist der Stundenplan okay. Aber wir haben den Claasen in Französisch, das macht mich jetzt schon fertig.«
»Der ist HSV-Fan«, teilte Theo sein unerschöpfliches Wissen über seine ehemalige und meine aktuelle Schule. »Frag ihn, wie das Spiel am Wochenende war, dann kommt er erst mal nicht zum Unterrichten.«
Ratlos guckte ich ihn an. »Und ein HSV ist …?«
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Mama und Papa schmunzelten.
»… ein Fußballverein.« Theo schüttelte den Kopf. »Mal ehrlich, passt in dein Hirn noch was anderes als Pferde?«
Ich streckte ihm die Zunge heraus. »Sagt einem ja keiner, dass man in Französisch nur gute Noten kriegt, wenn man sich mit Fußball auskennt.«
»Seit wann interessierst du dich für Fußball?« Luise stieß die Tür auf und kam mit einer Schüssel und einem Eimer Äpfel herein.
»Tut sie nicht. Sie will nur in Französisch keinen Stress«, klärte Theo sie auf.
»Oje, habt ihr den Claasen?«, fragte sie mich. Als ich nickte, sagte sie: »Mach dich mal ein bisschen über den HSV schlau. Uwe Seeler, Volksparkstadion und so. Wenn er nervt, kannst du ihn damit ködern. Und danach hast du nie wieder Ärger mit ihm.«
Papa lachte, doch Mama stemmte die Arme in die Seite und starrte uns ungläubig an. »Sagt mal, was wird das denn? Wie wär’s, wenn du in Französisch einfach mehr lernst, Frida? Dann müsstest du dir keine Schwachsinnstipps von deinen Geschwistern holen.«
Luise und Theo grinsten sie breit an, aber Papa kam herüber und zog sie an sich. Sie machte eine komische Grimasse, wie immer, wenn sie ernst bleiben wollte, es aber nicht schaffte.
»Keine Sorge, Mama, ich habe nicht vor, die Bundesligatabelle auswendig zu lernen«, versicherte ich ihr. »Höchstens, wenn ich zwischen Vier und Fünf stehe.«
Luise deutete auf mich. »Klingt vernünftig.«
Mama schüttelte den Kopf, wand sich aus Papas Umarmung und warf die letzten Schafskäsestücke in eine Schüssel. Als sie den Salat auf den Tisch stellte, schmunzelte sie. »Alle hinsetzen und essen. Jetzt ist Schluss mit diesen zweifelhaften Ratschlägen für Frida.«
»Für heute Abend wenigstens«, raunte Theo und fing sich damit einen scharfen Blick ein.
»Und, wie ist es da drüben?«, wollte Luise wissen, als sie sich Salat auf den Teller häufte.
Oh nein. Gerade hatte ich den Carlshof so schön verdrängt gehabt. Hello again, schlechte Laune.
»Fahr doch das nächste Mal deinen Kuchen selber rüber, wenn dich das so interessiert«, pampte ich sie an.
Luise hob abwehrend die Hände. »Da ist ja heute jemand gut drauf. Stell dich nicht so an, wir haben die Schule alle überstanden.«
»Um die Schule geht’s doch gar nicht«, erklärte ich. »Die da drüben sind voll die Tierquäler.«
Es folgte ein Moment ratlosen Schweigens. Meine Familie neigte dazu, mich nicht ernst zu nehmen, deswegen versuchte sie wahrscheinlich gerade, die Bedeutung meines Satzes durch den Ach-sie-ist-in-der-Pubertät-Filter zu entziffern.
Ich seufzte. »Nee, echt jetzt. Die lassen die Pferde zweiundzwanzig Stunden am Tag in der Box stehen. Hat mir Jannis selber gesagt. Dass solche Leute überhaupt Pferde halten dürfen!«
Mama hielt mir die Salatschüssel unter die Nase, aber ich reagierte nicht, also fing sie an, mir Gurken und Tomaten auf den Teller zu schaufeln.
Theo grinste, während er sich dick Butter aufs Brot strich. »Das Dramaküken wieder.«
Wenigstens handelte er sich damit den nächsten scharfen Blick von Mama ein. »Die würden doch sicher nichts tun, was den Pferden schadet, Frida. Eva hat einen sehr vernünftigen Eindruck gemacht. Und Jannis auch.«
Echt, manchmal war meine Familie dermaßen naiv.
»Hab ich das von euch gelernt, dass Pferde regelmäßig Kontakt mit Artgenossen und ausreichend Bewegung brauchen, oder was? Das ist doch völlig unnatürlich, was die da drüben treiben!«
»Jetzt iss erst mal«, schaltete sich Papa ein. Was Salat an den Praktiken der Maibachs ändern sollte, verstand ich zwar nicht, aber ich hatte wirklich Hunger, also biss ich in ein Stück Gurke. »Du kannst von Eldenau nicht auf den Carlshof schließen. Das ist ein Turnierstall, natürlich arbeiten die anders als wir.«
»Aber das meine ich doch! Für ihren Sport müssen die Pferde leiden. Ich kapier wirklich nicht, wie ihr sie da verteidigen könnt.« Herausfordernd sah ich in die Runde.
Der Protest setzte aus drei Richtungen ein – Theo hielt sich wie immer raus –, aber Luise war am lautesten: »Jetzt warte doch erst mal ab, wie das am Carlshof anläuft. Die kommen aus Berlin, da hatten sie bestimmt keine Möglichkeit, die Pferde auf die Koppel zu stellen. Vielleicht wird das hier ganz anders. Für uns ist es jedenfalls gut, dass sie da sind.«
»Hä?«, machte ich. »Wieso das? Weil sie unsere Einsteller abwerben?«
»Quatsch. Weil sie mit ihren Lehrgängen Feriengäste bringen. Und weil sie ihr Futter bei uns beziehen.«
Ich sah Papa an, der zustimmend nickte. »Ja, darüber haben wir gestern gesprochen. Eva sucht einen Lieferanten, und das, was sie braucht, kann ich ihr verkaufen.«
Luise griff über den Tisch nach dem Brotkorb. »Siehst du, ist doch toll, dass sie den Carlshof gekauft haben. Da springt vielleicht sogar der zweite Offenstall raus.«
Ich starrte sie an. »Boah, seid ihr opportunistisch.«
Irritierenderweise brachte das alle zum Lachen.
Theo klopfte mir auf die Schulter. »Du telefonierst eindeutig zu viel mit Omi.«
Bevor ich darauf antworten konnte, sagte Mama: »Frida, jetzt lass mal. Wir behalten das im Auge, in Ordnung?« Ihre Mundwinkel bogen sich ein Stück nach...