»Sara, was für ein Glück, dass ich dich gleich erwische!« Konrad Benedikts Stimme klang gehetzt. »Du arbeitest doch noch nicht, oder?« Im Hintergrund war lautes Weinen zu hören. »Still, Lili, Mäuschen, ich telefoniere doch gerade mit Tante Sara … jetzt wein doch nicht so …«
»Was ist denn passiert?«, fragte Sara.
»Das Meerschweinchen ist gestorben. Ich arbeite heute von zuhause aus, aber wir haben gleich eine wichtige Videokonferenz, und Maike ist auf Dienstreise, ich habe jetzt einfach keine Zeit, ein Meerschweinchen zu beerdigen, also wollte ich dich fragen …«
»Bin gleich da«, sagte Sara und legte auf.
Sie warf sich eine warme Jacke über und raste aus der Wohnung. Lili, Maikes und Konrads Tochter, ging in die dritte Klasse und war ihr Patenkind. Der Tod eines Meerschweinchens war im Leben einer Achtjährigen eine Tragödie, wie sie aus eigener Erfahrung wusste.
Sie schwang sich auf ihr Fahrrad. Zum Glück war es nicht weit von ihrer Wohnung im Münchener Südwesten bis zu dem schönen Haus, in dem ihr Bruder mit seiner Familie wohnte. In fünf Minuten würde sie dort sein.
Es gab bei Maike und Konrad recht oft kleinere und größere Katastrophen, bei denen Saras Hilfe gefordert war. Sie sprang gern ein. Verglichen mit dem stressigen Leben ihres Bruders und ihrer Schwägerin ging es bei ihr ruhig und beschaulich zu. Während die beiden einen streng durchgetakteten Alltag hatten, in dem schon die geringste Abweichung für Chaos sorgte – der Tod eines Meerschweinchens zum Beispiel – vermied Sara nach Möglichkeit jeglichen Stress, weil sie wusste, dass er ihr nicht bekam. Sie schrieb Liebesromane für einen großen Verlag, unter Pseudonym – dicke Wälzer, sie schaffte zwei pro Jahr. Es fiel ihr leicht, sie schrieb schnell und flüssig, Ideen hatte sie genug, und so geriet sie fast nie in Terminschwierigkeiten, denn diszipliniert war sie außerdem. Ihre Manuskripte hatte sie jeweils lange vor dem Abgabetermin fertig, was ihre Lektorin jedoch nicht ahnte. So hatte Sara fast immer Zeit – oder sie konnte sie sich nehmen.
Sie schrieb am liebsten spätabends und nachts, wenn es ruhig war und kein Telefon sie störte. Dann konnte sie sich am besten konzentrieren. Ihre Bücher erzielten keine sensationellen, aber doch so gute Verkaufszahlen, dass sie jeweils den nächsten Auftrag bekam, sobald sie ein Manuskript abgeliefert hatte. Manchmal wunderte sie sich selbst darüber, dass sie sich jedes Mal voller Freude an die neue Arbeit setzte.
Nebenbei schrieb sie an einem großen historischen Roman, der ihr viel Freude bereitete, von dem aber nicht sicher war, ob sie ihn jemals würde veröffentlichen können. Wenn ja, würde es das erste Buch sein, das unter ihrem wahren Namen erschien. Aber letztlich war ihr die Arbeit daran wichtiger als die Frage, ob es veröffentlicht würde oder nicht.
Jedenfalls erlaubte ihre Tätigkeit es ihr, wie jetzt, alles stehen und liegen zu lassen und zu ihrer kleinen Nichte zu eilen, die sich für ihr geliebtes Meerschweinchen Mirko eine würdige Bestattung wünschte. Das konnte sie sehr gut nachvollziehen. Sie hatte als Kind zwar kein Meerschweinchen gehabt, sondern eine weiße Ratte mit Namen Bianca, aber als Bianca eines Morgens tot auf der Fensterbank gelegen hatte, war für Sara eine Welt zusammengebrochen. Nie würde sie diesen Anblick vergessen. Und natürlich war Bianca feierlich beerdigt worden.
Sie stellte ihr Rad im Vorgarten ab und hatte die Haustür noch nicht erreicht, als diese auch schon aufgerissen wurde und Lili ihr mit verweintem Gesicht entgegenstürzte. Sara umschlang sie fest mit beiden Armen und sagte erst einmal gar nichts. Sie sie wusste, wie es in Lili aussah.
Von Konrad war nichts zu sehen, wahrscheinlich hatte sein