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Die Wirklichkeit
Montag
Denk an deinen Happy Place, sagt die ruhige Stimme in meinem Ohr.
Stell ihn dir vor. Glitzerndes Blau erscheint vor meinem inneren Auge.
Wie riecht es? Nach nassen Felsen, Salzwasser, Butter, die in einer Pfanne brutzelt, und nach Zitrone auf meiner Zungenspitze.
Was hörst du? Gelächter, das Klatschen von Wasser auf Haut, das Rauschen der Wellen, die sich über Sand und Steine zurückziehen.
Was spürst du? Sonnenlicht, überall. Nicht nur auf meinen nackten Schultern oder auf meinem Scheitel, sondern auchin mir, die unwiderstehliche Wärme, die entsteht, wenn man an genau dem richtigen Ort mit genau den richtigen Menschen ist.
Im Landeanflug sackt das Flugzeug in ein Luftloch.
Ich unterdrücke ein Kreischen und kralle die Fingernägel in die Armlehnen. Eigentlich bin ich keine ängstliche Flugpassagierin. Aber immer, wenn ich aufdiesem speziellen Flughafen lande, in einem winzigen Flugzeug, das aussieht, als wäre es aus recycelten Limodosen und Klebeband zusammengebastelt worden, gerate ich in Panik.
Meine Meditations-App ist dummerweise gerade bei einem Abschnitt der Stille angelangt, daher wiederhole ich das Mantra für mich selbst:Denk an deinen Happy Place, Harriet.
Ich öffne die Blende meines Fensters. Die leuchtende Weite des Himmels lässt mein Herz flattern, hier muss ich mir nichts vorstellen. Es gibt einige Orte, ein paar Erinnerungen, auf die ich immer zurückgreife, um runterzukommen, aberdieser Ort steht auf der Liste ganz oben.
Vermutlich ist es psychosomatisch, aber ich kann ihn plötzlichriechen. Ichhöre den Ruf der am Himmel kreisenden Möwen undspüre, wie die Meeresbrise mit meinem Haar spielt. Ichschmecke eiskaltes Bier, reife Blaubeeren.
In ein paar Minuten, nach dem längsten Jahr meines Lebens, werde ich mit meinen absoluten Lieblingsmenschen wiedervereint sein, und zwar an unserem absoluten Lieblingsort.
Die Räder des Flugzeugs rumpeln über die Landebahn. Etwas weiter hinten wird applaudiert, und ich reiße mir die Ohrhörer heraus. Meine Angst fliegt davon wie die Samen einer Pusteblume. Der grauhaarige Mann, der neben mir sitzt und den gesamten todesverachtenden Flug über geschnarcht hat, erwacht blinzelnd.
Er sieht mich unter seinen dichten weißen Augenbrauen an und knurrt: »Na, zum Hummer-Festival hier?«
»Meine besten Freunde und ich kommen jedes Jahr«, erwidere ich.
Er nickt.
»Ich habe sie seit letztem Sommer nicht mehr gesehen«, füge ich hinzu.
Er schnaubt missbilligend.
»Wir sind zusammen zur Schule gegangen, aber jetzt wohnen wir alle ganz verstreut, daher ist es schwierig, sich regelmäßig zu sehen.«
Sein unbeeindruckter Blick sagt:Ich habe nur eine Ja-Nein-Frage gestellt.
Normalerweise halte ich mich für eine großartige Sitznachbarin. Ich riskiere eher eine Blasenentzündung, als die Person neben mir zu bitten aufzustehen, damit ich auf die Toilette kann. Normalerweise wecke ich die Leute nicht einmal auf, wenn sie an meiner Schulter schlafen und auf meine Brust sabbern.
Ich habe schon fremde Babys und furzende Therapiehunde für sie auf dem Schoß gehalten. Ich habe meine Ohrhörer herausgenommen, um Männern im mittleren Alter zuzuhören, die gestorben wären, wenn ich mir nicht ihre Lebensgeschichte angehört hätte, und ich habe Flugbegleiter herbeigewinkt, damit sie eine Spucktüte bringen, weil der Teenager neben mir, der gerade den Spring Break hinter sich gebracht hatte, ein wenig grün im Gesicht wirkte.
Daher bin ich mir der Tatsache vollkommen bewusst, dass dieser Mann auf gar keinen Fall etwas von der magischen Woche mit meinen Freunden hören will, die mir bevorsteht, aber ich bin so aufgeregt, dass ich einfach nicht anders kann. Ich muss mir auf die Unterlippe beißen, um nicht lautVacation von den The Go-Gos direkt ins Gesicht des missmutigen Mannes zu singen, als die Passagiere sich quälend langsam aus dem