Wiesbaden, im Sommer 1961
HILDE
Ein Sonntag im August. Brütende Hitze liegt wie eine unsichtbare Glocke über der Stadt Wiesbaden. Nur wenige Autos befahren die Wilhelmstraße, die Spaziergänger bewegen sich gemächlich voran, man bevorzugt die Straßenseite längs des Warmen Damms, wo man unter dichten Platanenreihen angenehmen Schatten findet. Die Straßencafés auf der anderen Seite haben die Markisen tief heruntergezogen, um ihre Gäste vor Sonne und Straßenstaub zu schützen. Trotz der Hitze sind am Nachmittag alle Stühle besetzt, man genießt Kaffee und Kuchen, erfrischt sich mit »Bluna«, »Sinalco« und »Coca-Cola eisgekühlt« oder gönnt sich ein kleines Eis mit Sahne: Vanille, Schokolade und Erdbeer sind im Angebot. Die Damen tragen helle Sommerkleider, die Herren erlauben sich kurzärmelige Oberhemden unter dem Jackett. Die Anzugjacke wird trotz der Hitze nicht abgelegt – hemdsärmelig läuft man nicht über die Wilhelmstraße, das gehört sich einfach nicht.
Das Café Engel behauptet sich beharrlich gegen die überall in der Stadt aufblühenden neuen Cafés und Konditoreien. Vor allem das Café Blum gleich nebenan ist eine Herausforderung: Sie sind dreimal so groß, servieren im ersten Stock bis zum späten Abend anspruchsvolle Menüs, auch Tanzabende, Hochzeitsfeiern und andere Veranstaltungen finden dort Platz. Dafür punktet das Café Engel mit seinen exquisiten Torten, dem ausgezeichneten Kaffee und der familiären Atmosphäre. Die kleinen, aber leckeren Tellergerichte finden mittags bei den Büroangestellten viel Anklang, werden aber auch noch am Abend von den Sängern und Schauspielern des Staatstheaters gern geordert. Weil man nach der Vorstellung gemeinsam mit den Kollegen noch eine Kleinigkeit essen möchte und sich dazu eine Flasche »Engelströpfchen« genehmigt. Der Riesling stammt vom Weinberg des Herrn Perrier, dem Ehemann der Chefin, und gilt allgemein als Geheimtipp.
Nur die Stammgäste wissen, dass der heutige Sonntag für die Familie Koch ein ganz besonderer ist. Vater Heinz Koch sitzt am Stammtisch gleich bei der Kuchentheke, trinkt seinen Kaffee und unterhält sich mit lieben Gästen, die sich zahlreich bei ihm niederlassen und sogar Blumengebinde und kleine Geschenke mitbringen. Hilde hat in weiser Voraussicht alle Blumenvasen der Familie im Nebenraum deponiert, auch die Schwägerin Swetlana, die heute gemeinsam mit Luisa kellnert, hat etliche Gefäße mitgebracht.
»Was für schreckliche Pötte«, sagt Mutter Else kopfschüttelnd, als sie mit Hilde allein ist.
Hilde findet das Genörgel ihrer Mutter unpassend und zuckt die Schultern. »Über Geschmack lässt sich nicht streiten, Mama.«
Mutter Else zieht abschätzend die Augenbrauen in die Höhe und nimmt zwei der Vasen, um sie schon einmal mit Wasser zu füllen.
Hilde wird jetzt ungeduldig. »Was läufst du eigentlich dauernd durch die Gegend, Mama?«, meint sie gereizt. »An einem Tag wie heute solltest du drüben am Stammtisch an Papas Seite sitzen. Die Leute haben schon nach dir gefragt.«
»Du liebe Güte«, sagt Mutter Else abwehrend. »Da herumzusitzen und mich beweihräuchern zu lassen – das ist nichts für mich. Und überhaupt – muss man ein solches Theater um diese Sache machen? Schließlich ist das etwas ganz Normales.«
»Na, hör einmal, Mama!«, empört sich Hilde. »Wir geben uns solche Mühe, diesen Tag für euch beide so schön wie möglich zu gestalten. Freust du dich denn gar nicht darüber?«
»Ach, Hildchen …«, ruft Else beklommen. »So hab ich das doch nicht gemeint. Natürlich freue ich mich.«
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