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Alma strich die Tischdecke glatt. Sie strahlte blütenweiß, aber Alma wusste, dass das nicht lange so bleiben würde. Sie wusste nicht, was sie bevorzugte: die makellos eingedeckten Tische oder die Unordnung, die von einem Abend in bester Gesellschaft und mit hervorragendem Essen erzählte.
Von einem lauten Poltern wurde Alma aus ihren Gedanken gerissen. Arlo schob den Servierwagen mit Tellern und Gläsern aus der Küche in den Gastraum, und wie an jedem Vormittag blieb der Wagen an der Schwelle hängen, sodass ihre Chefkellnerin noch mal mit extra Druck anschieben musste. Es hatte sie einige Monate gebraucht, diese besondere Aufgabe zu perfektionieren, doch nun war sie die Einzige, die es schaffte, Geschirr aus der Küche in den Gastraum zu transportieren, ohne dass an dieser Schwelle mindestens ein Teller das Zeitliche segnete.
Arlo kam mitsamt Wagen neben ihrer Chefin zum Stehen und lächelte zufrieden. »Wieder ein Teller mehr, der nicht zu Bruch gegangen ist. Ich glaube, so langsam habe ich meinen Verschleiß aus meinen ersten Monaten wieder ausgeglichen«, lachte Arlo und begann, den Tisch einzudecken. Alma mochte ihre sonore Stimme, die sie immer an einen trocken-samtigen Rioja erinnerte.
Ja, sie verglich die Eigenheiten ihres Umfeldes immer mit Lebensmitteln. Sie konnte nicht anders, Essen und die ganze Kunst davor, dahinter und drum herum bestimmten ihre Arbeit, ihren Alltag, ihr ganzes Sein. Alma war die Leidenschaft für gutes Essen quasi in die Wiege gelegt worden. Kein Wunder, denn ihre Mutter Loretta – in Wesen und Küche waschechte Italienerin – betrieb schon seit Ewigkeiten ein kleines Feinkostgeschäft in Stade. Aufgewachsen war Alma umgeben von Pecorino, Antipasti und Bresaola, doch fürs Studium war sie vom Alten Land nach Hamburg gezogen. Hier kam sie zum ersten Mal mit dem Prinzip rein pflanzlicher Ernährung in Kontakt. Irgendwann fragte sie sich, ob sie die Leibspeisen aus ihrer Kindheit wohl auch vegan nachstellen könnte. Oder zumindest welche erzeugen, die ein vergleichbares Feuerwerk in jeder einzelnen Geschmacksknospe zündeten. Über ihre Selbstversuche startete sie einen Foodblog, der in kürzester Zeit so erfolgreich wurde, dass er Almas Berufsweg damit vorgab. Und auch ihren heimlichen Kindheitstraum vom eigenen Restaurant gar nicht mehr so abwegig erscheinen ließ.
Arlo reichte Alma zwei von den tiefen Pastatellern auf die andere Seite des Tisches. Dienstagmittags gab es keine Bestellung à la carte. Um in ihrem Restaurant das Gefühl eines Streetfoodmarkts aufkommen zu lassen, gab es jede Woche ein neues Thema. Die Servicekräfte schoben Wagen mit den verschiedensten Leckereien durch den Gastraum, und die Gäste konnten sich durch das Angebot probieren. »Oder halt wie ein Büfett ohne Anstehen«, hatte Arlo einmal gewitzelt, als Alma ihr von der Idee erzählt hatte. Doch seit sie sah, wie begeistert ihre Gäste das Dienstagskonzept annahmen, verkniff sie sich jeden weiteren Witz.
Arlo arbeitete fast von Beginn an imDear Dairy, um sich ihr Studium zu finanzieren. Sie begeisterte sich brennend für die Themen Nachhaltigkeit, eine grüne und ressourcenschonende Lebensweise und die eigene Verantwortung der Welt gegenüber – und hatte das Gefühl, ihren eigenen Worten nach, imDear Dairy eine Verbündete gefunden zu haben. Alma hatte es zu Beginn fast vor Arlos Überzeugung gegruselt, und sie hatte befürchtet, von ihrer neuen Servicekraft als Hochstaplerin entlarvt zu werden. Schließlich war dies nur ein Restaurant – und nicht die Schaltzentrale zur Rettung der Welt. Doch Arlos erstklassige Arbeit, ihr feines Gespür ihren Gästen gegenüber und ihr Talent für Service sorgten alsbald dafür, dass Alma jegliche Befürchtungen unter den Tisch fallen ließ. Sollte Arlo doch eines Tage