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Der Hof war leer, die Eltern auf dem Feld. Sie ging durch den Stall ins Haus; die hintere Tür war nie zu. In der Stadt schlossen sie immer alle Türen ab, das hatte sie am Anfang gewundert. Aber dann auch wieder nicht. Die waren sich ja alle fremd. Hier schlossen sie immer nur die Haustür zu, wenn sie weggingen. Das Wertvolle war ja nicht im Haus, sondern in den Ställen und Scheunen, und die konnte man eh nicht alle zusperren.
In der Küche war es fast wärmer als draußen. Sie befühlte das Wasserschaff – es war noch heiß. Also hatte die Mutter gekocht, und das hieß, dass sie auf keinem der weiter entfernt liegenden Felder waren, wenn sie zu Mittag hatten heimkommen können. Der Geruch nach Holzfeuer – das hatte ihr gefehlt in der Stadt. Die ewige Hitze in der Küche nicht. Aber die Mutter würde niemals einen elektrischen Herd wollen. Nicht, weil sie gegen das Neue war. Schließlich hatten sie jetzt auch eine Melkmaschine. Aber das Holz kostete sie nichts. Der Strom schon.
Sie ging kurz nach oben auf ihre Stube. Alles wie immer. Das Bett frisch bezogen. Hier war es gleich kühler, weil die Mutter das Fenster musste aufgetan haben, bevor sie aufs Feld gegangen war. Sie nahm ein Buch aus dem Regal, das ihr der Vater gezimmert hatte, als es immer mehr geworden waren.Sturmhöhe. Das hatte sie immer gemocht. So voller Kraft. Und darin auch eine, die auf einem Hof groß geworden war. Sie wog das Buch in der Hand, ohne es aufzuschlagen. Alte Geschichten.
Sie trat ans Fenster. Über dem hohen Scheunendach der Kirchturm. Nie war der Blick anders gewesen. Der weiche Glockenschlag hatte von Anfang an die Tage ihrer Kindheit gezählt und ihre Mädchenjahre. Das Abendläuten im Winter um sechs, im Sommer um acht. Der Vater im Stall nahm dann die Mütze ab und betete ein schnelles Vaterunser, obwohl er vom Pfarrer nicht viel hielt. Ob er an etwas glaubte? Wahrscheinlich tat er es nur, weil alle es taten. Weil es Herkommen war, und wenn man einmal anfing, das Hergekommene zu lassen, dann flog alles auseinander. Sie lächelte. Ja. Wahrscheinlich war es hier so. Wenn man das Hergekommene ließ, dann flog alles auseinander.
Sie sah noch einmal auf das Buch. Da war es auch so, dass alles auseinandergeflogen war. Sie stellte es zurück ins Regal zu den anderen. Obwohl das Buch schon so alt war: Diese Geschichte hatte sie immer berührt.
Es hielt sie nicht im Haus. Das Dorf war nachmittagsstill und die Gassen fast so leer wie an einem Sonntag. Sie holte sich das Fahrrad der Mutter aus der Scheune. Als sie auf die Hauptstraße abbiegen wollte, musste sie warten. Der Postbus kam und fuhr die Haltestelle an. Es war trotz der Jahre in der Stadt immer noch genug Dorf in ihr, dass sie nicht gleich weiterfuhr, als der Bus an ihr vorbei war, sondern dass sie wartete, bis alle ausgestiegen waren. Diese selbstverständliche Neugier, die es hier gab. Vielleicht konnte man es gar nicht Neugier nennen. Vielleicht war es ein selbstverständliches Wissenwollen. Wer kam und wer ging? In der Stadt gab es viel zu viele Menschen, da interessierte es niemanden, aber hier? Hier war es wichtig.
Sie hatte die Unterarme auf den Lenker gestützt und sah den Schmied Walter aussteigen und die Betty vom Hörnleinshof. Die war wohl beim Arzt gewesen, so wie sie sich aufgeputzt hatte, obwohl sie doch schon über fünfzig war. Es hieß, dass sie gerne zum Arzt ging und öfter als eigentlich nötig.
Ich habe das alles noch im Kopf, dachte sie ärgerlich. Wozu? Was geht’s mich an, wenn die Hörnleins Betty gern zum Arzt geht. Ihr Mann … na, jeder wusste, dass der nicht gegen sie aufkam. Gerade, dass er nicht kleiner war als sie, aber ganz sicher nicht so stark. Wenn die aufs Feld fuhren, dann saß er hinten auf dem Traktor.
Sie schüttelte unwillig den Kopf über sich. Jetzt dachte sie doch weiter und wollte das gar nicht. Sie hob sich aus dem Satt