Meine Cordelia!
Irgendwo hier in der Stadt wohnt eine kleine Familie, eine Witwe mit ihren drei Töchtern. Zwei davon gehen in die königliche Küche, um das Kochen zu lernen. Es ist an einem Nachmittag, im Vorsommer, gegen fünf Uhr, als sich die Tür zum Wohnzimmer unmerklich öffnet und ein spähender Blick durch das Zimmer geht. Niemand ist da, nur ein junges Mädchen sitzt am Klavier. Die Tür bleibt angelehnt, so dass man unbemerkt horchen kann. Keine Künstlerin spielt, sonst hätte man die Tür wohl wieder geschlossen. Das junge Mädchen spielt ein schwedisches Lied, es handelt von der kurzen Dauer der Jugend und Schönheit. Die Schönheit und Jugend des Mädchens widersprechen den Worten des Liedes. Wer hat recht, das Mädchen oder die Worte? Die Töne klingen so still, so melancholisch, als wenn die Wehmut der Schiedsrichter wäre. – Aber sie hat unrecht, diese Wehmut! Gibt es eine Gemeinschaft zwischen dieser Jugend und diesen Betrachtungen? Hat es je Gemeinschaft zwischen Morgen und Abend gegeben? Die Tasten zittern, die Geister des Resonanzbodens heben sich in Verwirrung und verstehen einander nicht, – warum so heftig, meine Cordelia, warum diese Leidenschaft?
Wie weit muss ein Ereignis zurück sein, damit wir es nicht mehr erinnern, wie weit muss es zurück sein, damit die Sehnsucht der Erinnerung es nicht mehr greifen kann? Die meisten Menschen haben darin eine Grenze, was ihnen zu nah liegt, können sie nicht erinnern, was ihnen zu fern liegt auch nicht. Ich habe keine Grenze. Was ich gestern erlebt habe, schiebe ich tausend Jahre in der Zeit zurück und erlebe es, als wenn es gestern erlebt wäre.
Dein Johannes.
Meine Cordelia!
Vertraute meines Herzens, ich muss Dir ein Geheimnis anvertrauen. Wem könnte ich es sonst anvertrauen? Nicht dem Echo. Das würde es ausplaudern. Nicht den Sternen. Die sind zu kalt und fern. Und nicht den Menschen. Die würden es nicht begreifen. Dir nur darf ich es anvertrauen, Du wirst es bewahren.
Ein Mädchen kenne ich, das ist schöner als der Traum meiner Seele, reiner als das Licht der Sonne, tiefer als die Quellen des Meeres, stolzer als der Flug des Adlers – ein Mädchen kenne ich – o! Neige mir Dein Haupt zu und Dein Ohr meiner Rede, damit mein Geheimnis den verborgenen Pfad zu Deinem Herzen finde – ich liebe dieses Mädchen mehr als mein Leben, und sie ist mein Leben, mehr als die Wünsche alle, alle, sie ist mein einziger Wunsch; wärmer, als die Sonne die Blume liebt, inniger lieb ich sie, als das Leid die bekümmerte Seele in ihrer Einsamkeit liebt, sehnsuchtsreicher liebe ich sie als der glühende Wüstensand den Regen liebt, – ja, zärtlicher als ein Mutterauge liebt, das auf dem Kinde ruht; und vertrauensreicher, als eines Betenden Seele z