: Sigrid Heuck
: Mit Wind und Wolken unterwegs Was bleibt, ist die Erinnerung
: Allitera Verlag
: 9783869067995
: 1
: CHF 8.00
:
: Erzählende Literatur
: German
: 249
: kein Kopierschutz/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF/ePUB
Es war einmal eine Frau, die reiste nach Cap Verden, um Drachenechsen zu sehen. Sie ritt mit den Tuareg auf Kamelen durch die Sahara, bestaunte in der unendlichen Weite der afrikanischen Steppe wilde Tiere und wanderte auf schmalen Pfaden zu den Heiligtümern im Jemen. Die bekannte Kinderbuchautorin Sigrid Heuck hat in zahlreichen Kurzgeschichten ihre Erlebnisse und Eindrücke ferner Länder eingefangen. Ihre Begegnungen mit Menschen, Tieren, Kulturen und Städten zeugen davon, welche Faszinationen die weite Welt bereithält. Sie wecken Fernweh und zeigen, wie Reisen das Leben bereichert, inspiriert und beflügelt.

Es war einmal in Italien (1955)


Es war einmal vor vielen Jahren, dass der Onkel seine junge Nichte einlud, die Ferien mit ihm und seiner Frau auf der Insel Ischia zu verbringen. Diese Insel befand sich in der Bucht von Neapel nicht weit entfernt von Capri, das auf der ganzen Welt bekannt war. Sie war damals noch nicht berühmt, und der Ort, in dem sich der Onkel eingemietet hatte, war nur zu Fuß zu erreichen. Er bestand aus einigen Häusern, einer Kirche, vielen Männern, Frauen, Kindern, Hunden und Hühnern und dem alten Wachturm, der »Torre« genannt wurde. Einfach nur »Torre«.

Die Häuser befanden sich dicht ineinander verschachtelt an einem Berghang, umgeben von lauter Weinbergen. Lebte man eine Weile dort und verstand auch ein bisschen die Sprache, dann war es, als käme man in eine große Familie. Man fügte sich ein, und wenn man das gelernt hatte, dann kam es einem vor, als verstünde man vieles von so einem abgelegenen italienischen Nest. Von der Endhaltestelle des Busses aus führte ein schmaler Fußweg, jeder Bucht und jedem Vorsprung folgend, an der Küste entlang zu diesem Dorf. Vor der Piazza bog der Weg links ab, kletterte in vielen Windungen steil an der Kirche vorbei den Berg hinauf und teilte sich dann. Der Hauptweg brachte den Spaziergänger dann zu zwei Nachbardörfern oben am Berg. Man stieg Treppen hinauf, die an den Seiten der Häuser klebten, lief auf den Dächern entlang vorbei an aufgehängter Wäsche, stinkenden Fischresten, schreienden Kindern, stieg die nächste Treppe hoch, befand sich abermals auf dem Dach eines Hauses und erreichte auf diese Weise sein Ziel, wenn man nicht unterwegs mit einer Frau über ein neues Pizzarezept oder mit einem kleinen Mädchen über seine Flechtarbeit schwätzte.

Die gute Stube des Ortes war die Piazza. Sie war zugleich Hafenplatz, Spielplatz, Kino und Tanzboden. Alles Wichtige spielte sich hier ab, angefangen vom täglichen Anlegen des Motorbootes über den Streit zweier Fischer bis zum Fotografieren eines Mannequins mit Modellen für eine Boutique.

Das Haus, in dem Onkel, Tante und Nichte wohnten, lag weiter oben am Berg. Es stand als mächtiger Quader auf einer der vielen Hangterrassen. Zu erreichen war es nur durch einen schmalen Pfad, auf dem zwei Leute nicht nebeneinander gehen konnten und der durch eine Schlucht mit erstarrter Lava führte.

Das Haus gehörte der Großmutter. Außer ihr lebten noch zwei Söhne mit ihren Frauen und sieben Enkelkindern dort. Drei Zimmer auf der oberen Terrasse wurden im Sommer an fremde Gäste vermietet. Elektrisches Licht gab es nicht. Kleine Petroleumlampen und Kerzen waren die einzige Beleuchtung am Abend.

Das Regenwasser wurde in einer Zisterne gesammelt und war sehr knapp. Auf ganz Ischia soll es damals nur eine Quelle gegeben haben, außer den Thermalquellen natürlich. Jeden Morgen wurde die Nichte durch das Quietschen der Winde geweckt, mit der ihre Wirtin, Signora Giuseppina, Wasser aus dem Zisternenschacht holte. Etwas breitbeinig, den Kopf vorsichtig durch die schmale