Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Ich schreibe diese Erinnerungen nicht aufgrund stenografischer Aufzeichnungen, wie sie Bundesminister Fritz Zimmermann oder mein Tennispartner in der CSU-Landtagsfraktion, Staatssekretär a. D. Paul Wilhelm – einer der schnellsten Stenografen seiner Zeit in Bayern –, über Jahrzehnte pflegten. Ich bringe die erlebten Dinge zu Papier wie Amos Oz »Eine Geschichte von Liebe und Finsternis« oder Wolfgang Johannes Bekh »Gustav Mahler oder Die letzten Dinge« geschrieben haben. Ich will mich mit diesen außergewöhnlichen Literaten nicht vergleichen. Aber ich habe besonders von ihnen gelernt, wie man Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft. Bei der wiederholten Lektüre dieser Bücher spürte ich immer wieder das emotionale Gedächtnis, die Liebe zum Sujet, das Gefühl in Worte gekleidet. Amos Oz, für mich der größte lebende Autor Israels, schreibt mit den Augen eines Kindes, der Reife eines Erwachsenen, dem großen Talent der Erzählkunst und der Gabe, Geschichten und Geschichte in Einklang zu bringen. Die Geschichte der Familie Klausner, Amos’ europäischer Familienname, den er später hebräisierte, mit der Geschichte Israels und des Nahen Ostens zu vernetzen. Seine Mutter beging Selbstmord, weil sie die Erde Osteuropas mit dem Sand Israels vor und nach 1948 nicht vermengen konnte. Amos Oz war acht Jahre, als er seinen Vater mit einer fremden Frau in einem Café in Jerusalem sah. Dieses Bild hat sich in seinem emotionalen Gedächtnis eingegraben und ist immer neu gedeutet worden.
Wolfgang Johannes Bekh beschreibt, wie sehr Alma ihren 20 Jahre älteren Mann Gustav Mahler, den musikalischen Brückenbauer zwischen der alten und der neuen Zeit – wie der Dirigent und Harvard-Professor Leonhard Bernstein es formulierte –, liebte. Sie kann ihn nicht verlassen, obwohl sie ihre Erfüllung als Frau bei anderen Männern sucht und findet. Die Innigkeit zu ihrem Mann ist eine andere, spielt auf einer anderen Ebene. Sie weiß genau, welche Musik Gustav, bereits im Todeskampf befindlich, mit den Fingern auf die Bettumrandung taktet. Dafür gibt es keinen Beweis, bedarf es auch nicht, denn es sind pure Emotionen Almas, der Untreuen. Sie hat ein Recht auf ihre Emotionen. Emotionen können einem nicht genommen werden.
Manchmal stellen Tatsachen auch eine Bedrohung für die Wahrheit dar, schreibt Amos Oz und erzählt die Geschichte seiner Großmutter, die an einem heißen Sommertag 1933 von Wilna nach Jerusalem gekommen ist. Sie besuchte den Markt, »sah das Blut, das aus den Hälsen geschächteter Hühner tropfte, sah die Schultern und Arme orientalischer Männer […] und verkündete sogleich ihr endgültiges Urteil: die Levante ist voller Mikroben «. 25 Jahre später starb sie an einem Herzinfarkt. Aber das ist nicht wahr, widerspricht Amos Oz. Sie starb an ihrem Sauberkeitswahn, der sie 25 Jahre lang täglich dreimal zum Zwecke der Reinigung von all den Mikroben der Levante in eine heiße Badewanne steigen ließ. Ihr Arzt warnte sie schon Jahre vor ihrem Tod, mit diesem Unsinn aufzuhören. E