: Gertrud Scherf
: Nixen, Wichtlein, Wilde Frauen Eine Kulturgeschichte der Naturgeister in Bayern
: Allitera Verlag
: 9783962330439
: 1
: CHF 10.70
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: Sonstiges
: German
: 226
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
A s bildhafte Symbole für die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, der sozialen Umwelt und mit sich selbst erfüllten die Naturgeister einst wichtige Funktionen. Im Alltagsleben heute kaum mehr spürbar haben sie doch ihre Spuren hinterlassen, sind in andere Gewänder geschlüpft, leben in veränderter Gestalt weiter und können auch in der Gegenwart über ihre kulturgeschichtliche Bedeutung hinaus wirken. Durch allerlei Merkmale und Verhaltensweisen sind die Naturgeister miteinander verbunden über Lebensräume, Regionen sowie die Grenzen Bayerns hinweg. Andererseits sind es gerade die von ihnen bevorzugten oder ausschließlich bewohnten Lebensräume, die diese Wesen prägen. So unterscheiden sich die Wassergeister von den Waldgeistern oder den geisterhaften Bewohnern anderer Räume wie Moor oder Hochgebirge. Die Autorin stellt Nixen und Wichtlein, wilde Frauen, Bergmännlein und den Hehmann vor sowie weitere wundersame Gestalten in ihren bayerischen Lebensräumen mit Namen, Aussehen, Vorlieben, Aversionen und mancherlei Besonderheiten. Dabei zeigt sich immer wieder die Neigung der wilden Dämonen zu nicht nur geografischen Grenzüberschreitungen. Als Grundlage für ihre Untersuchungen dienen der Autorin Sprache, Alltagskultur und Brauchtum, Kunstdarstellungen, tradierte Gelehrtenäußerungen, Märchen und vor allem Volksglauben und Volkssagen.

Getrud Scherf, geboren 1947 in Berchtesgaden, war Grund- und Hauptschullehrerin sowie wissenschaftliche Assistentin am Institut für die Didaktik der Biologie der Ludwig-Maximilians-Universitä München. Dort promovierte sie auch. Als freie Autorin lebt und arbeitet sie seit vielen Jahren in Niederbayern. Die meisten ihrer Sachbücher beschäftigen sich mit der Kulturgeschichte von Pflanzen oder Tieren, beispielsweise »Zauberpflanzen, Hexenkräuter«, »Alte Nutzpflanzen wieder entdeckt« oder »Wolfsspuren in Bayern«. Ein besonderes Anliegen sind der Autorin die über den unmittelbaren Nutzen hinausgehenden Beziehungen zwischen Mensch und Natur, wie sie sich im Volksglauben zeigen und von denen Märchen und Sagen berichten. Sagenmotive liegen auch ihrem Erzählband »Signaturen« und dem Kurzroman »Schatzhüter« zugrunde.

NATURGEISTER – EINE ANNÄHERUNG

Was verbindet die schönen Wasserfrauen mit den eher unscheinbaren und unansehnlichen Zwergen, was die Gestalten in Bayern mit denen an der Nordseeküste oder in den Zentralalpen? Ungeachtet jeweils typischer Merkmale und Eigenheiten zeigen Naturgeister verschiedener Lebensräume und Regionen so manche gemeinsame Wesenszüge.

ENTSTEHUNG

Mit Naturgeistern lebt die Menschheit vermutlich seit ihrer Frühzeit. Die neuere Forschung2 geht nicht mehr davon aus, dass Geister als Vorstufen der späteren Götter zu erklären sind, wie dies etwa der Anthropologe Edward Burnett Tylor (1832–1917) (»Primitive Culture«) oder der Ethnologe James George Frazer (1854–1941) (»The Golden Bough«) versucht haben. Umgekehrtsind vermutlich einige vorchristliche Götter in das Gewand von Geistern geschlüpft und haben so ihr Überleben gesichert, wie unter anderem für Frau Holle und Frau Percht vermutet wird.3

Naturgeister sind in einem animistisch und magisch geprägten Weltbild als Schöpfungen des menschlichen Geistes entstanden.

Inanimistischer Denkweise hält der Mensch die Natur und ihre Erscheinungen, die Tiere und die Pflanzen von Geistern oder dämonischen Wesen beseelt und glaubt, dass die Vorgänge in der Natur von ihnen bewirkt werden. Der Ethnologe Lothar Käser, der sich mit dem Animismus4 in ethnischen Gesellschaften in Übersee befasst, formuliert: »In der vergleichenden Religionsethnologie und -wissenschaft versteht man unter Animismus den Glauben an die Existenz und Wirksamkeit von anthropomorph (menschenähnlich) und theriomorph (tierähnlich) gedachten geistartigen Wesen (Seelen und Geister)«.5

Eine Unterscheidung und Trennung von belebter und unbelebter Materie findet im Animismus weithin nicht statt. Auch der Animismus-Begriff des Schweizer Psychologen Jean Piaget (1896–1980) beinhaltet, dass unbelebten Objekten Lebendigkeit und Personhaftigkeit zugesprochen wird. Piaget beschreibt ein entwicklungspsychologisches Modell von mehreren Stufen, die das Kind durchläuft und ordnet den Animismus einer vom 2. bis zum 7. Lebensjahr postulierten Phase der präoperationalen Intelligenz zu. Die Kinder zeigen ein entsprechendes Verhalten gegenüber unbelebten Gegenständen wie einem Stein, einem Tisch, Wolken oder dem Wind.6

Animistische Vorstellungen sind wohl bereits auf einer frühen menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsstufe entstanden, sie kommen aber neben den religiösen und wissenschaftlichen Denksystemen weiterhin vor und haben sich im Volksglauben auch Mitteleuropas, etwa beim Baum- , Quellen- und Steinkult, teilweise bis in die Gegenwart erhalten.7

Sigmund Freud (1856–1939) nennt in seinem 1913 erschienenen Werk »Totem und Tabu« den Animismus die erste Weltauffassung, welche den Menschen gelang: »Der Animismus ist ein Denksystem, er gibt nicht nur die Erkl