: Johano Strasser
: Das freie Wort Vom öffentlichen Gebrauch der Vernunft im postfaktischen Zeitalter
: Allitera Verlag
: 9783869069982
: 1
: CHF 10.70
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 208
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wir leben in postfaktischen Zeiten ? lesen und hören wir allenthalben. Aber was heißt das eigentlich? Gilt auf einmal die harte Realität, die nüchterne Anerkennung der Tatsachen, nichts mehr, ist uns die Wahrheit schnuppe, zählt immer und überall nur noch die Meinung, das Bauchgefühl? In diesem Buch setzen Schriftsteller und Intellektuelle dem aufgeregten Zeitgeist Argumente entgegen. Vernunft und Empathie gegen Hass und Panikmache, nüchterne Analyse und ehrliche Selbsterforschung gegen Lüge und Selbstbetrug. Sie erheben die Stimme für mehr Demokratie in Deutschland und Europa - und gegen die simplen und menschenverachtenden Konzepte der rechten Populisten.

JOHANO STRASSER, geboren 1939 in Leeuwarden (Niederlande), studierte Sprachen und Philosophie und lehrte von 1978 bis 1983 Politikwissenschaft an der Freien Universität in Berlin. Seit 1983 arbeitet er als freier Schriftsteller und lebt in Berg am Starnberger See. Von 2002 bis 2013 war er Präsident des PEN-Zentrums Deutschland. Er veröffentlichte zahlreiche Sachbücher, Romane, Hörspiele, Theaterstücke und Gedichtbände, zuletzt den Roman Die schönste Zeit des Lebens (2011), Gesellschaft in Angst. Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit (2013), Das Drama des Fortschritts (2015), Der Wind. Ein Gedicht (2016).

Johano Strasser

ZUR EINLEITUNG: VOM ÖFFENTLICHEN GEBRAUCH
DER VERNUNFT IM »POSTFAKTISCHEN ZEITALTER«


»Postfaktisch« – das Wort des Jahres 2016 wirft seinen Schatten über unsere verunsicherte Gegenwart. Für viele ist es das Schlüsselwort unserer Epoche: Wir leben in »postfaktischen« Zeiten, lesen und hören wir allenthalben. Aber was heißt das eigentlich? Gilt auf einmal die harte Realität, die nüchterne Anerkennung der Tatsachen, nichts mehr? Ist uns die Wahrheit schnuppe, zählt immer und überall nur noch die Meinung, das Bauchgefühl? Und wurde im guten alten Zeitalter des bürgerlichen Anstands und der angeblich so reibungslos funktionierenden parlamentarischen Demokratie, das nun leider zu Ende geht, immer nur um die Wahrheit, die ganze und reine Wahrheit gerungen? Neigten Politiker nicht auch früher schon dazu, Fakten zuschaffen, die nicht oder nicht ganz der Wahrheit entsprachen, aber ihren Interessen und Absichten entgegenkamen? Und gilt nicht auch in unserer parlamentarischen Demokratie seit eh und je der Grundsatz »Mehrheit ist Mehrheit«, egal, ob sie mit hieb- und stichfesten Argumenten oder mit Halbwahrheiten und Meinungsmache erzielt wurde?

Wer heute wie vor 160 Jahren Ferdinand Lassalle behauptet, »alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit«, muss damit rechnen, dass er von politischen Insidern und professionellen Politikauguren als Dilettant und Traumtänzer belächelt wird. Haben nicht alle Parteien in einem politischen Konflikt oft ihre je eigenen Fakten, die zu möglichst schlüssigen Erzählungen zusammengefasst oft die mühsame Begründung der eigenen Politik erübrigen sollen?

Und ist nicht Medienpräsenz für den Erfolg eines Politikers heute allemal wichtiger als Sachkompetenz? Was ist eigentlich einfactum, eine Tatsache?

Gut, es gibt Tatsachen, die man nicht leugnen kann, wie die Glastür, an der man sich den Kopf blutig stößt, obwohl man sie (oder besser: weil man sie) nicht gesehen hat, oder wie das Fluorid im Trinkwasser oder das Kohlenmonoxid in der Luft, das man weder sehen noch riechen noch schmecken kann und das trotzdem schädlich, zuweilen sogar tödlich ist. Und es gibt den durch die überwältigende Übereinstimmung nahezu aller ernsthaften Wissenschaftler bestätigten Befund, dass die Menschheit drauf und dran ist, durch ihre falsche Produktions- und Lebensweise einen katastrophalen »Erdsystemwandel« zu erzeugen, der nur durch eine entschlossene ökologische Wende noch abgewehrt werden kann. In diesem Punkt kann sich das störrische Verleugnen des Faktischen durch Personen wie Donald Trump als lebensgefährlich für die Menschheit erweisen. Dennoch, nicht von ungefähr heißtfactum dem Wortsinn nach »gemacht«, Fakten sind also nicht einfach da, existieren nicht völlig für sich. Sie existieren in einem Kontinuum von Wirklichem, und werden erst durch unser Zutun, durch Abstraktion, zu einzelnen Tatsachen, und dies auch dann, wenn sie nicht wie die Umweltprobleme erkennbar das aggregierte Ergebnis menschlichen Handelns sind.

Die Fakten, die unserem gemeinschaftlichen Weltverständnis zugrunde liegen, auch die, die im politischen Prozess trotz aller Tendenz zur Inszenierung auch heute immer noch eine wichtige Rolle im politischen Streit spielen, werden in einem Verständigungsprozess etabliert, bei dem alle Beteiligten idealerweise ihre eigene Erfahrung zu Rate ziehen. IhreErfahrung, nicht ihre flüchtigen Eindrücke, ihre Wünsche und Gefühle. Denn sie müssen, wenn es darum geht, sich darüber zu verständigen, was ist, so weit wie möglich von ihrem spontanen subjektiven Eindruck, von ihren individuellen Interessen und Wünschen, ihrem Bauchgefühl absehen, damit in diesem Verständigungsprozess ein Ergebni