: Sophie Reyer
: Ein Schrei. Meiner. Roman
: Czernin Verlag
: 9783707607758
: 1
: CHF 18.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Andrea fu?hlt sich zunehmend fremd in ihrem eigenen Körper. Sie ist depressiv und hat Halluzinationen, ausgelöst durch ein Trauma in ihrer Kindheit. In ihrer Therapeutin findet sie zunächst eine Rettung, doch ihre Wahnvorstellungen nehmen sie immer mehr gefangen. Sophie Reyer lotet in ihrem neuen Roman auf äußerst feinfu?hlige und poetische Art die Grenzen der Psyche aus. Ist sie noch ein Mensch? Diese Frage stellt sich Andrea immer öfter. Die Narbe an ihrem Bauch, die von einer Blinddarmoperation geblieben ist, wird zur Schnittstelle zwischen realem Leben und Maschine. Schließlich wird Andrea zu einer Gefahr, nicht nur fu?r sich selbst, sondern auch fu?r ihren Verlobten Sascha. Linda Maier, Andreas Psychiaterin, kämpft ihrerseits mit einer schweren Vergangenheit. Fu?r beide Frauen beginnt die Suche nach der Realität und auch nach Freiheit. Sophie Reyer ist ein außergewöhnlicher Roman gelungen, u?ber die Suche nach sich selbst und u?ber zwei Frauen, die versuchen, ihre psychischen Krankheiten zu u?berwinden.

Sophie Reyer, 1984 in Wien geboren, promovierte Philosophin, arbeitet am Institut fu?r Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Sie schreibt Prosa, Lyrik und Theatertexte fu?r Erwachsene und Kinder. Diverse Preise und Stipendien, 2021 mit »1431« auf der Longlist des Österreichischen Buchpreises.

THERAPIE


ANDREA

Es ist ein heller Tag, als ich die Praxis betrete. Hell, freundlich, und ein bisschen unscheinbar. Dennoch bin ich irgendwie beklommen. Mein Herz klopft, meine Zunge liegt mir schwer im Hals. Fast so wie bei einer Geburt fühlt es sich an. Ich bin mir selbst auf eine komische Art und Weise fremd. Hätte Sascha mich nicht gedrängt, wäre ich nicht hierhergekommen. Denn im Grunde ist mein Leben wunderbar. Ich habe einen fixen Job in einem Architekturbüro, an dem das Einzige, was mich stört, die Tatsache ist, dass ich zu viel Zeit vor dem Rechner verbringe. Davon kriege ich Verspannungen in den Schultern. Ich habe einen wunderbaren Mann, den ich bald schon heiraten werde. Sascha. Wieder hole ich tief Luft und atme schwer. Mein Mann ist auch der Grund, warum ich jetzt hier stehe, die Finger um meinen Daumen rolle und ein wenig unsicher hin und her stakse. Ich betrachte die Frau, die mich eben eingelassen hat. Friedlich wirkt sie. Sie ist weder groß noch klein, um die Vierzig, und hat ein kleines Bäuchlein, das über den schwarzen Hosenrock lappt. Sympathisch. Ihre Haut ist von einem rosigen Schimmer, um die Augenwinkel erkenne ich ein paar Fältchen, die in mir Zuversicht erwecken. Das Haar trägt sie kurz und wasserstoffblond. Am Ansatz sind bereits einzelne graue Strähnen zu erkennen. Sie bittet mich auf einen Stuhl und lächelt mich an. Ich setze mich und sehe weiter in das Gesicht, das vor mir liegt wie eine Landschaft, offen und hell. Verbaut nur durch eine eckige und recht intellektuell wirkende Brille.

Die Therapeutin Linda Maier nimmt die Brille ab. Sie legt sie sorgfältig auf den Tisch und reibt sich kurz die Augen. Dann sieht sie mich mit einem Blick an, der alles durchdringt. Ein Röntgenblick. Sie zieht eine Augenbraue in die Höhe und schiebt mir einen Bogen zu.

»Bitte füllen Sie das hier aus«, meint sie freundlich. »Für die Krankenkasse!«

Ich nicke erleichtert. Papierkram, darin bin ich gut. Ich kann wunderbar mit Daten und Zahlen umgehen, habe ein fotografisches Gedächtnis, merke mir alle Wege. Manchmal scheint mir, ich würde Strukturen in einer Landschaft mehr lieben als Menschen. So geht es mir auch mit Zahlen und Buchstaben. Sascha ist da freilich eine Ausnahme. Ich nehme den Stift in die Hand. Beim Ausfüllen der Adresse stocke ich.

»Ist etwas unklar?«, will Linda Maier wissen und zieht erneut ihre scharf gezeichnete Braue hoch. Ich lächle, unsicher, nach innen gerichtet. Sie lächelt zurück, ihr Lächeln hat ein wenig mit Glück zu tun. Ich schüttle den Kopf.

»Nein, ich habe nur überlegt, dass ich ja bald schon umziehe!«

Linda Maier lächelt.

»Ist das der Grund, warum Sie hier sind?«

Rasch lasse ich meinen Blick sinken. Gesichter machen mir Angst, wenn ich sie zu lange ansehe. Ich schreibe, drücke ein wenig fester auf als notwendig. Der Stift kratzt am Papier.

»Ja … und nein«, murmle ich.

Die Therapeutin lächelt, streift sich das helle Haar, das im Licht der Sonne nun fast golden wirkt, hinter die Ohrläppchen, räuspert sich und richtet sich dann gerade auf.

»Warum wollen Sie denn eine Therapie machen?«, will sie nach einem kurzen Moment des Schweigens wissen.

Ich seufze, hole tief Luft.

»Mein Freund liegt mir seit Jahren in den Ohren …«, antworte ich. »Und da wir bald heiraten werden …«

Um die Mundwinkel der Therapeutin kräuselt sich ein sanftes Lächeln, das sehr echt wirkt.

»Also Fremdbestimmtheit?«, fragt sie.

Beschämt blicke ich auf meine Fingernägel, ihr Blick kommt ein wenig näher, als es sich gesund anfühlt.

»Nicht ganz«, murmle ich.

»Gut so, das spricht für die gemeinsame Arbeit.«

Die Therapeutin fährt sich durchs Haar. Ihre pink lackierten Fingernägel fallen mir auf. Sie geben der angespannten Situation ein wenig Luft. Ich bin Architektin. Ich liebe Farben, Formen, ich liebe Verspieltes.

»Ich falle in letzter Zeit immer wieder um«, erkläre ich dann wahrheitsgemäß. »Und dann bin ich irgendwie … doppelt.«

Fragend zieht Linda Maier wieder eine Augenbraue nach oben.

»Doppelt?«

»Nun«, versuche ich es weiter und nehme dabei die Hände zur Hilfe, »es ist dann so, als würde ich mich teilen und mich gleichzeitig von außen ansehen.«

»Verstehe«, sagt Linda Maier.

Sie beugt sich nach vorn, stützt ihre Hand auf, legt das Kinn hinein. Sie scheint zu überlegen.

»Haben Sie eine Vermutung, was die Ohnmacht ausgelöst hat?«, will sie dann vorsichtig wissen.

Betreten sehe ich wieder auf meine Fingernägel. Faszinierend, so ein Daumen, wenn man unsicher ist und sich scheu fühlt. Ich nicke, ohne die Therapeutin anzusehen.

»Möchten Sie es mir mitteilen?«, fragt sie.

Ich seufze auf, fahre mir durchs Haar. Womit beginnen? Mit den vielen Stunden vorm Computer? Mit der Tatsache, dass mich, nachdem ich meinen achtstündigen Arbeitstag beendet habe, auf dem Nachhauseweg oft das Gefühl überkommt, ich müsste Zebrastreifen mit der Maus langziehen? So, als wären sie Balken in meinem Grafik-Programm. Oder damit, dass ich Gesichter manchmal mit Bildschirmen verwechsle? Dass ich mein neues Buch nicht finde und googeln möchte, wo ich es hingelegt habe?

»Ich bin vollkommen überarbeitet«, murmle ich schließlich.

Linda Maier nickt.

»Was machen Sie beruflich?«, will sie wissen.

»Ich arbeite in einem Architekturbüro«, erkläre ich, »und sitze oft zehn Stunden am Stück am Laptop.«

Über die Gesichtszüge der Therapeutin flattert eine sanfte, mütterliche Regung.

»Das ist sicherlich sehr belastend. Wie lange sind Sie schon auf dem Gebiet tätig?«

Ich weiche aus.

»Nein. Eigentlich liebe ich meinen Job. Ich bin ja schon seit über zehn Jahren Architektin!«, erkläre ich rasch. Wieder sehe ich die Therapeutin an. Ihr Ausdruck bleibt verständnisvoll.

»Was hat zu Ihrer akuten Überarbeitung geführt?«, will sie sanft wissen.

Ich lausche ihrer Stimme, die tönend klingt, wie der Wind, der durch die Blätter der Bäume fährt. Ich überlege.

»Sie ist nicht akut, sie ist chronisch, meine Überarbeitung«, sage ich dann.

Die nächste Frage kommt schnell, scharf und weniger sanft.

»Woran liegt das?«, fragt die Therapeutin.

Ich denke an Sascha. Daran, wie wunderbar er riecht, wie hell sein Lachen ist, daran, dass er einfach perfekt ist. Mir fällt kein Grund außerhalb von mir selbst ein.

»An mir«, sage ich schließlich.

Da lächelt die Therapeutin wieder und ihre Augen bekommen einen Glanz, der etwas Füchsisches hat. Ich komme mir vor, als hätte man mich dabei erwischt, wie ich nach versteckten Weihnachtsgeschenken suche.

»Das heißt, Sie könnten den Zustand ändern, wollen es aber nicht«, meint sie.

Ich schlucke. Betrachte wieder meine Hände.

»Na ja, wollen …«, murmle ich.

Stille.

»Erzählen Sie mehr von Ihrer Arbeit!«

Also berichte ich vom Grafik-Programm, von Maßstäben, Mausklicks und Balken.

»Sie leuchten ja richtig!«

Ich lache.

»Ich liebe meine Arbeit eben!«

»Das merkt man«, antwortet sie und sieht mich eine Zeitlang schweigend an.

Ich erkenne, dass ihre Augen grün sind. Grün und gut. Sie wirken kristallklar, fast wie ein blank geputzter Spiegel. Ein reiner Spiegel ist auch ihr Gesicht. Ich finde mich wieder in ihm. Lange betrachte ich Linda Maier und entschließe mich, dass ich ihre rötliche, nicht mehr ganz glatte Haut mag.

»Aber zurück zu dem Gefühl, doppelt zu sein«, sagt sie.

Ich nicke.

»Ja?«

»Wie genau ist das?«

Ich überlege, schließe kurz die Augen, um mich genau zu erinnern.

»Ein wenig so, als sähe ich mich selbst von außen. Ich habe dann einen Körper, der wie eine Schale ist, und ich bin daneben und spreche mit ihm.«

Die Therapeutin blickt interessiert auf.

»Sie haben also eine Stimme, wenn sie außerhalb Ihres Körpers sind?«

»Ja … nein … eher das Echo einer Stimme.«

Stille.

»Und was sagt sie?«

Ich schweige. Krame in meinem Kopf nach Bildern.

»Ich erinnere mich nicht«, gebe ich schließlich zu.

Linda Maier nickt und sieht aus dem Fenster. Ich komme mir leer vor, einsam, wie fallen gelassen. Diesmal muss ich nicht mehr auf meine Hände blicken.

»Das klingt komisch, oder?«, frage ich.

Die Therapeutin schüttelt den...