: Karin Wenger
: Bis zum nächsten Monsun Menschen in Extremsituationen
: Stämpfli Verlag
: 9783727261565
: 1
: CHF 31.60
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Hier bricht ein Gebäude ein, da herrscht Krieg, sonst wo wütet eine Drogenbande - wir lesen die Schlagzeilen und hören die News. Die Berichte machen uns betroffen, und trotzdem vergessen wir sie schnell, denn da sind ja schon die nächsten. Die Asienkorrespondentin Karin Wenger hat vor Jahren angefangen, Personen, denen sie bei ihrer Newsberichterstattung begegnet ist, erneut aufzusuchen. Die so entstandenen Reportagen zeigen die Folgen von Krieg, Korruption, Fundamentalismus und billiger Kleiderproduktion drastisch auf. Wie lebt jemand weiter, der nur knapp überlebt hat? Woher nehmen Menschen die Kraft, weiterzumachen, ohne zu zerbrechen - weder physisch noch psychisch -, obwohl sie Grausames erlebt haben? Wer überlebt einfach? Wer schöpft Kraft aus dem Erlebten und entdeckt die Welt neu, und was hilft ihm dabei?

Alles nur für die Mutter


Eine schmale Treppe führt zu Youk Chhangs Büro empor. Licht flutet durch die grossen Glasfenster auf gut bestückte Bücherregale. Hinter dem Schreibtisch hängt ein Gemälde: ein Buddha im Lotussitz, die Hände im Schoss ineinandergelegt. Youk Chhang schaut auf. Ein Lächeln breitet sich über sein rundes Gesicht, die ­Augen sind leicht zusammengekniffen, darüber ein voller, aber grauer Haarschopf. Später werde ich mich fragen, wie es möglich ist, dass einer, der so viel Leid erfahren hat, eine so gütige Stimme, ein so warmes Lächeln hat. Noch später werde ich merken, dass seine Antworten einen gehässigen Unterton bekommen, wenn er glaubt, die Kontrolle zu verlieren oder zu viel preisgegebenzu haben.

Youk Chhang ist ein Überlebender der Schreckensherrschaft der Roten Khmer, Journalist, Politologe und Direktor des Dokumentationszentrums von Kambodscha seit dessen Gründung Mitte der neunziger Jahre in Phnom Penh. Damals war das Zentrum, auch DC-Cam genannt, Teil des Kambodscha-Genozid-Programms der US-amerikanischen Yale University. Seit 1997 ist es unabhängig, wird aber weiterhin auch durch Regierungsprogramme der USA, andere Länder und private Spender finanziert. Über fünfzig Forscherinnen und Forscher arbeiten im Zentrum zu Themen rund um den Völkermord in Kambodscha.

Youk Chhang steht auf und tritt zur Begrüssung vor seinen grossen Schreibtisch. Besucher zu empfangen und ihnen Geschichten zu erzählen, seine wie auch die von anderen Überlebenden, gehört fest zu seinem Alltag. Denn wer sich mit der Geschichte Kambodschas und der Roten Khmer auseinandersetzt, besucht früher oder später das Dokumentationszentrum und Youk Chhang. So auch ich an diesem Tag im Oktober 2016. Kaum jemand sonst weiss so viel über den Genozid, hat ihn selbst erlebt und überlebt, wie er.

Ich wurde 1961, im Jahr des Büffels, in Phnom Penh geboren. Ich bin ein Überlebender der Roten Khmer, aber ein Opfer bin ich nicht mehr. Das sage ich allen, die in mir das Opfer sehen wollen. Ein Opfer zu sein, bedeutet, dass du eine unüberwindbare Barriere, eine Mauer zwischen dir und den anderen, errichtest. Wie aber willst du leben, andere verstehen, Beziehungen aufbauen, wenn du dich einmauerst? Wenn du wie ein Opfer lebst, gibst du alle Macht den Tätern. Ich aber lasse nicht zu, dass die Roten Khmer mein Leben bestimmen, dass sie mich von der Welt isolieren, deshalb habe ich meine Opferidentität abgestreift. Ich habe meinem Leben einen Sinngegeben.

Aber vielleicht sollte ich anders beginnen, denn alles, was ich mache, tue ich für meine Mutter. Meine Mutter war ein Bauernmädchen. Lesen und Schreiben hat sie nie gelernt. Aber sie kann Tabak zu Zigaretten rollen, Fisch zubereiten und Stoffe weben. Das hat uns später das Leben gerettet. Sie erlebte den Zweiten Weltkrieg, den Vietnamkrieg, den Staatsstreich, den Völkermord, die vietnamesische Invasion. Sie lebte in Armut, und als ihr Leben endlich stabiler wurde, kam die Globalisierung. Heute ist sie isoliert von dieser modernen Welt. Aber noch immer lebt sie, sei