An meinem ersten Arbeitstag als Staatsanwältin fühlte ich mich ein bisschen wie Harry Potter. Als wäre ich unter Muggeln aufgewachsen und stürzte plötzlich mitten hinein in die Welt der Zauberer. Ich war ehrfürchtig und absolut ahnungslos. Mir flatterte der Magen, wie vor einer Fahrt mit der Achterbahn. Meinen Weg in die Justiz – ich auf dieser Seite des Rechtsstreits –hatte ich absolut nicht kommen sehen. Und er passte auch eigentlich gar nicht zu mir, wie ich mir heimlich eingestehen musste. Eigentlich hätten die Dinge sich anders entwickeln sollen, doch manchmal sind Pläne wohl dazu da, um über den Haufen geworfen zu werden.
Mein Start in das Arbeitsleben bei der Staatsanwaltschaft beendete im Grunde eine kleine Selbstfindungsphase. Vor dem Examen war mir eigentlich glasklar, dass ich Anwältin werden würde. Ich hatte meine ganze Ausbildung auf eine Spezialisierung im Handels- und Gesellschaftsrecht ausgerichtet. Der universitäre Schwerpunkt, die Praktika, meine Nebenjobs, ein Auslandsaufenthalt – all das diente der Vorbereitung von Bewerbungen bei großen, schicken, internationalen Kanzleien. Aber dann kamen die Examensergebnisse. Und mit ihnen kam ein Brief des Justizministeriums. Er enthielt eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch für eine Stelle in der Justiz. Das versetzte mich in eine viermonatige Schockstarre.
Warum? Sagen wir, mit der Justiz ist es ein bisschen so wie mit Hogwarts, dieser Schule für Zauberei aus den Harry-Potter-Büchern. Wie schon gesagt, man bekommt einen Brief aus dem Ministerium. Zugegeben, nur aus dem Ministerium der Justiz und nicht aus dem für Hexerei und Zauberei, aber ich hielt das Justizministerium damals für ähnlich magisch. Die Wahrscheinlichkeit, eine Einladung aus dem Justizministerium zu bekommen, ist am Ende nämlich in etwa so groß wie die, dass der berühmte Brief aus Hogwarts einflattert. Für mich hätte ich jegliche Möglichkeit ausgeschlossen.
Für den sagenumwobenen Brief aus dem Justizministerium muss man natürlich zuerst einmal Jura studieren (und das ist, weiß Gott, schon schwierig genug). Dann muss man ein Referendariat durchlaufen und schließlich sollte man beide Examina mit einem Prädikat abschließen. Ein Prädikat, das ist ein sogenanntes »vollbefriedigendes Ergebnis«. Und das entspricht quasi der Fähigkeit zu zaubern.
Ich konnte nie zaubern. Ich war ein Muggel, eine absolut durchschnittliche Studentin. Ich ging gern mit meinen Freunden tanzen. Mehrmals wöchentlich. Ich schwänzte gern die frühen Vorlesungen. Vor allem die im öffentlichen Recht. Na ja, eigentlich war es bei denen egal, zu welcher Tageszeit sie stattfanden, die ließ ich aus Prinzip aus. Ich hatte ein Sozialleben. Mit Freunden, Familie und Sport. Das ist für Jurastudierende zwar gut möglich, aber auch nicht unbedingt typisch. So ein Prädikat, und damit die Möglichkeit, Staatsanwältin oder Richterin zu werden, lag für mich also in unerreichbarer Ferne. Ich hatte sie überhaupt nicht in Betracht gezogen. Deshalb hatte ich meine Ausbildung eben auf eine Karriere in der Anwaltschaft ausgerichtet. Das war mein Plan. Noten spielten für mich dabei eine untergeordnete Rolle.
Aber dann kamen die Examina. Und Gott sei Dank bin ich rechtzeitig aufgewacht. Gott sei Dank hat meine ehrgeizige Kommilitonin Marie uns zu einem Klausurenkurs angemeldet. Gott sei Dank bin ich mit Pauken und Trompeten durch die Probeklausuren gefallen. Und Gott sei Dank bekam ich Angst. Große Angst. Existenzielle Angst. Die Durchfallquoten im Jurastudium sind hoch. Schon im ersten Semester hatte mein Professor gesagt: »Schauen Sie sich um. Schauen Sie Ihre Sitznachbarn zu Ihrer Linken und zu Ihrer Rechten an. Und machen Sie sich bewusst, dass Sie, statistisch gesehen, nach dem Examen allein hier sitzen werden.«
Zwei von dreien schaffen es nicht. Zwei von dreien studieren Jura und haben am Ende trotzdem keinen Abschluss. Dann ist man quasi Abiturient mit Führerschein. Nach fünf Jahren