: Evelyn Grill
: Der Nachlass
: Residenz Verlag
: 9783701746835
: 1
: CHF 14.40
:
: Erzählende Literatur
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mit gewohnter Lakonik und schwarzem Humor legt Evelyn Grill Zeugnis ab von der Einsamkeit in schwierigen Zeiten. Eine alte Frau sitzt in ihrem Lehnstuhl, ihre Gedanken gehen zu ihrer Tante Paula, von der sie dieses Möbelstück geerbt hat, und zu ihrer eigenen aufgezwungenen Einsamkeit. Denn es herrscht Pandemie und sie ist zur 'vulnerablen Person' erklärt worden. Als solche wird sie vorsorglich abgesondert und 'keimfrei aufbewahrt', vielleicht wird sie unter dieser Schutzglocke ja hundert Jahre alt. Tante Paula hingegen ist keine fünfzig geworden, sie wurde deportiert und der Lehnstuhl ist alles, was von ihr geblieben ist. Zwischen glasklarer Erkenntnis und zunehmender Verwirrung kreist das Denken der alten Frau um das Leben, das geschützt wird, und jenes, das als 'unwert' bezeichnet wird, um gesellschaftliche Gewalt - und um das Glück, von niemandem behelligt zu werden.

Evelyn Grill, geboren 1942 in Garsten, Oberösterreich, lebt als freie Schriftstellerin in Freiburg im Breisgau, seit 2017 wieder in Linz. 2017 erhielt sie den OÖ-Landeskulturpreis für Literatur. Im Residenz Verlag erschienen: 'Vanitas oder Hofstätters Begierden' (2005, nominiert für den Deutschen Buchpreis), 'Der Sammler' (2006, mit dem Otto-Stoessl-Preis ausgezeichnet), 'Wilma' (Neuauflage 2007), 'Das römische Licht' (2008), 'Das Antwerpener Testament' (2011), 'Der Sohn des Knochenzählers'(2013), 'Der Begabte' (2019), 'Der Nachlass' (2022).

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Wenn sie sich in den hölzernen Lehnsessel setzt, dann knarrt er. Er würde einmal unter ihr zusammenkrachen und ihre mürben Knochen – Osteoporose, dachte sie, ist ja altersgemäß – würden sich mit den hölzernen Streben der Rückenlehne in verhängnisvoller Weise verspreizen und ihr einen qualvollen Tod bereiten. Sie hat Fantasie, je älter sie wird, umso stärker wird ihre Vorstellungskraft. Es ist, als ob sich in ihrem Gehirn eine Parallelwelt auszubilden begänne. Sie findet das einerseits interessant, andererseits beunruhigend, und kann nur hoffen, dass sie die beiden Welten nicht zu verwechseln beginnt.

Sie ist allein und die reale Welt einerseits, die sie sich nicht vorzustellen braucht, denn die ist ja da, sozusagen begreifbar, wenn auch nicht angreifbar, d. h. nicht anzufassen, die hat sie vor Augen, und die Fantasiewelt andererseits, die ihr manchmal böse Streiche spielt und nur in ihrer Vorstellung existiert, sind für sie manchmal schwer auseinanderzuhalten. Sie fürchtet, dass s