In der heutigen Auseinandersetzung mit Immanuel Kant geht es zentral um die sogenannte Dialektik der Aufklärung, eine Debatte, die in den letzten fünfundzwanzig Jahren oberflächlicher und ideologischer geführt wurde, als es sich die Autoren des gleichnamigen Werks, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, am Ende des Zweiten Weltkrieges hätten träumen lassen. Während sie in der Tradition Kants und Georg Wilhelm Friedrich Hegels darum bemüht waren, einen Begriff der Vernunft zu entfalten, der ihre instrumentellen Vernutzungen selbst noch zu kritisieren vermochte, und damit dem Projekt der Aufklärung, dem Kampf um die Beherrschung von Natur, Mensch und Gesellschaft die Treue hielten, sind heute Vertreter einer sich dezisionistisch auf Moral stützenden politischen Ethik nur allzugerne bereit, die rationalitätskritischen und damit rationalitätssteigernden Potentiale dieser Philosophieen bloque zu verurteilen. Das wird in der Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus besonders deutlich. Von André Glucksmann, einem ehemaligen Maoisten, bis Paul Lawrence Rose, einem zionistischen Historiker, haben die Teilnehmer dieser Debatte die verschiedenen Philosophen des Deutschen Idealismus auf die Anklagebank gesetzt. Der Verdacht, dass Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Hegel die geistigen Urheber des Nationalsozialismus und damit der massenindustriellen Ermordung der europäischen Juden waren, ist weder neu noch spektakulär, weder völlig abwegig noch haltbar. Schon Herbert Marcuse sah sich 1941 im US-amerikanischen Exil genötigt, mit seinem BuchReason and Revolution dem Missbrauch Hegels durch völkische Juristen entgegenzutreten. Bei keinem Philosophen des Deutschen Idealismus jedoch scheint der Verdacht, er gehöre in die Vorgeschichte von Auschwitz, absurder als bei Kant, jenem Philosophen der Autonomie, der unbedingten Rechtlichkeit und der unverletzbaren Menschenwürde, dem sich ein großer Teil des deutschen Judentums im neunzehnten Jahrhundert bis weit in die Orthodoxie hinein verpflichtet fühlte. In seinem unableitbaren Sittengesetz artikulierte sich systematisch und vernunftgemäß genau das, was die Bibel mit ihrer Erinnerung an den Bund und die gebietende Stimme vom Sinai in erzählender Sprache entfaltet.
»Vielleicht«, so heißt es in KantsKritik der Urteilskraft von 1790, »gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen, noch irgend ein Gleichnis, weder dessen, was im Himmel, noch auf Erde, noch unter der Erden ist, u.s.w. Dieses Gebot allein kann den Enthusiasmus erklären, den das jüdische Volk in seiner gesitteten Epoche für seine Religion fühlte, wenn es sich mit andern Völkern verglich, oder denjenigen Stolz, den der Mohammedanism einflößt.«1 Darin erkannten sich jene Juden, die im frühen neunzehnten Jahrhundert aus der Enge des Gettos ausbrechen wollten, wie Lazarus Bendavid, Saul Ascher, Markus Herz und David Friedländer, ebenso wieder wie jene, die ihrer Tradition einen vernünftigen Sinn verleihen wollten, etwa Hermann Cohen,2 oder jene, die gar zeigen wollten, dass sich mit Kant die wörtlich verstandene Offenbarung am Sinai beweisen ließ, von Samson Rafael Hirsch bis zur neoorthodoxen Rabbinerdynastie Breuer. Freilich war nicht zu übersehen, dass derselbe Kant die Juden seiner Zeit als »betrügerische Palästiner« bezeichnete und in seinen religionstheoretischen Schriften wie auch im Nachlass wiederholt die »Euthanasie des Judentums« gefordert hatte – ein Ausdruck, der sp