Wladimir Putin unterschätzt seine Gegner nur selten. Während seiner Ausbildung an derKGB-Schule in Leningrad wurde ihm beigebracht, detaillierte Dossiers über Zielpersonen anzulegen, egal ob es sich um russische Dissidenten oder Apparatschiks der SED in der DDR handelte.
Bevor er sich mit jemandem trifft, erstellt Putin eine Stärken-Schwächen-Analyse seines Gesprächspartners. Bei seinem ersten Besuch in den Vereinigten Staaten wickelt er den amerikanischen Präsidenten und Methodisten George W. Bush mit frommen Geschichten über seine Taufe in der russisch-orthodoxen Kirche um den Finger. Ein sichtlich erfreuter Bush erzählt anschließend, dass er »in die Seele« des ehemaligenKGB-Offiziers geschaut habe. Als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel 2007 Sotschi besucht, um über Energiepolitik zu sprechen, lässt Putin seinen schwarzen Labrador Konni herein. Merkel – die Angst vor Hunden hat – traut sich kaum, sich zu bewegen. Putin dominiert das Gespräch.
Wladimir Putin überlegt sich auch genau, wie er über Menschen spricht. Der russische Präsident ist sich der politischen Anziehungskraft von Alexej Nawalny nur allzu bewusst. Deshalb wird der Name des russischen Oppositionsführers nie über seine Lippen kommen – auch nicht, nachdem Nawalny seit Januar 2021 in einer Zelle eingesperrt ist. Putins Sprecher, Dmitri Peskow, nennt ihn stets nur »diesen Blogger«, wenn er sich auf Nawalny bezieht.
Im April 2019 wird Wolodymyr Selenskyj im zweiten Wahlgang mit fast drei Vierteln der Stimmen zum sechsten Präsidenten der Ukraine gewählt.
Einen Monat später ist der russische Präsident zu Gast auf dem Weltwirtschaftsforum in Sankt Petersburg, fünf Jahre nach der Annexion der Krim und dem Absturz von Flug MH17. Im Osten der Ukraine kommt es weiterhin täglich zu Schusswechseln zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Separatisten.
»Warum haben Sie Wolodymyr Selenskyj nicht gratuliert, als er Präsident wurde?«, fragt die Moderatorin.
Putin seufzt tief. Die russischen Beamten und Geschäftsleute im Saal stoßen sich gegenseitig an: Das verspricht lustig zu werden.
»Wissen Sie«, sagt Putin, »er bedient sich immer noch einer gewissen Rhetorik. Er bezeichnet uns als ›Feinde‹, ›Aggressoren‹. Vielleicht sollte er erst einmal darüber nachdenken, was er erreichen will, was er tun will.«
Putin hat den Namen Selenskyj bis dahin nicht in den Mund genommen.
»Sie sind der Präsident einer Großmacht«, fährt die Moderatorin fort, »und er ist derzeit in seinem Land sehr beliebt. Sie könnten beide Tabula rasa machen. Eine kleine Geste könnte den Lauf der Geschichte völlig verändern. Warum treffen Sie sich nicht einfach mit ihm?«
Putin schaut fragend in den großen Saal, bis das Kichern der Beamten und Geschäftsleute verstummt ist.
»Habe ich Nein gesagt?«, entgegnet Putin. Mit einem falschen Lächeln fügt er hinzu: »Niemand hat mich eingeladen.«
»Sind Sie bereit für ein Treffen?«
Putin scheint nun wirklich amüsiert zu sein. »Hören Sie, ich kenne diesen Herrn nicht. Ich hoffe, dass wir uns eines Tages kennenlernen können. Soweit ich das beurteilen kann, ist er eine Größe auf seinem Gebiet, ein guter Schauspieler.«
Aus dem Publikum ertönen Gelächter und Beifall.
Putin fährt fort: »Ernsthaft, es ist eine Sache, jemanden zu spielen, aber es ist etwas ganz anderes, jemand zu sein.«
Die Beamten in ihren blauen Maßanzügen wissen genau, was Putin damit meint. Der 1978 geborene ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj begann seine Karriere als Comedian und Kabarettist. Zwischen 2015 und 2019 war Selenskyj der Star der ukrainischen ErfolgsserieDiener des Volkes. Die TV-Serie dreht sich um de