»Nein, Mathi, nein!« rief Gaby aus und nahm ihrem Brüderchen das Schulheft aus der Hand, nach dem er blitzgeschwind gegriffen hatte. In der linken Faust hielt er einen Malstift. Sie ahnte schon, was er damit vorhatte. »Das darfst du nicht haben. Was glaubst du, was mein Lehrer sagt, wenn du darin herumschmierst.«
»Ich tu’ nicht schmieren«, erwiderte der Kleine gekränkt. »Ich wollt’ es nur ein bißchen bunt anmalen.«
»Von meinen Schulsachen läßt du die Finger«, sagte Gaby bestimmt. »Malen kannst du da –« Mit ausgestrecktem Arm wies sie auf die offenstehende Tür, dahinter sich sein Zimmer befand. »Und jetzt läßt du mich schön in Ruhe bei meinem Englischaufsatz. Hast du mich verstanden, du Plagegeist?«
Mit gespielter Strenge sah sie in das runde Gesicht des Bübchens.
Aber so leicht ließ ein Mathias Mathi, wie er mit vollem Namen hieß, nicht verscheuchen, auch wenn er erst drei Jahre alt war.
Er hob sich auf die Fußspitzen, legte die Ellenbogen auf den Tisch und sah kriegerisch seine große Schwester an.
»Ich weiß nich’, was ein Plagegeist ist, aber ich frag’ die Mama, wenn sie kommt«, verkündete er. Dann, rasch abgelenkt: »Was ’n das?« Sein Blick war auf ein aufgeschlagenes Buch gefallen. Er zog es zu sich heran. »Was sind das für Leute?«
Spitzbärtige waren es, mit hohen Halskrausen und ebensolchen Hüten. Sehr sonderbar fand er die.
»Das sind Männer, die Stücke geschrieben haben«, erklärte ihm Gaby.
»Was denn für Stücke?«
»Für Theateraufführungen.«
»Und warum sind die so komisch angezogen?«
Ungeduldig stand das junge Mädchen vom Stuhl auf. »Das war eben die Mode vor ein paar hundert Jahren.«
»Vor ein paar hundert Jahren«, wiederholte das Brüderchen staunend. Darunter konnte er sich kaum etwas vorstellen. »Da war ich noch nicht auf der Welt«, fügte er mit seinem treuherzigen Augenaufschlag hinzu.
»Nein.« Gaby mußte lachen. »So, und jetzt ist es genug.« Sie nahm seine Hand und führte ihn in sein Zimmer, wo es alles erdenkliche Spielzeug gab. »Hier bleibst du jetzt, Mathi, bis die Mama vom Frisör kommt. Guck mal, auf deiner Tafel kannst du ein Bild malen, das zeigst du dann dem Papa.«
»Hm, kann ich ja machen.« Er ließ sich auf den Teppich plumpsen, drehte sich auf den Bauch und angelte nach der Maltafel.
Gaby ging wieder an ihren Platz. Das Brüderchen würde nun hoffentlich für eine Weile beschäftigt sein!
Sie waren schon ein besonderes Geschwisterpaar, mit ihren zwölf, beinahe dreizehn Jahren Altersunterschied. Aber was sollte es – heißgeliebt war der Mathias ja doch. Wie der Papa nur immer strahlte, wenn er aus der Firma kam und sein Jüngster fast über die kleinen Beine stolperte, weil er ihm nicht schnell genug entgegenlaufen konnte, von ihm aufgenommen und herumgeschwenkt werden wollte.
Sie war nie eifersüchtig gewesen. Dafür wußte sie zu viel.
Sie wußte, daß ihr Vater Maximilian Hirth von ihr, seiner Tochter Gaby, zehn Jahre lang nichts gehabt hatte und es deshalb für ihn etwas Großes war, diesen einen Sohn nun aufwachsen zu sehen.
Ihre Mutter Corinna war sehr jung und eigenwillig