Eine Insel des Friedens und der gegenseitigen Duldung blieb in dieser Zeit, da lärmender politischer Fanatismus in den sonst so ruhigen Kreis der Forschung eingebrochen war, das «Universitets Institut for Teoretisk Fysik» am Blegdamsvej Nummer 15 in Kopenhagen. Dort scharten sich noch immer wie in den Jahren vor Hitlers «Machtergreifung» und Stalins «neuer Linie» Physiker aller Nationen, Rassen und Ideologien um ihren Meister Niels Bohr. Je frecher der Anspruch von Halbwahrheit und Lüge sich im öffentlichen Leben der Völker breitmachte, um so entschiedener bemühte man sich im Kreise um Bohr, das ungewisse, nie endgültig faßbare, sich in immer fernere Tiefen zurückziehende Bild der ganzen Wahrheit zu entdecken. Die neuen Diktatoren erkannten neben ihren Programmpunkten nichts an und bestraften schon den leisesten Zweifel grausam. Der «Kopenhagener Geist» dagegen verlangte den Zweifel. Er hielt die Menschen dazu an, alle Dinge von mehreren Seiten zu betrachten, und postulierte, daß selbst einander widersprechende Erkenntnisse auf einer höheren Ebene sich zu einem Ganzen zusammenfänden.
Der als weltfremd geltende Niels Bohr handelte schneller und tatkräftiger als irgendein anderes Mitglied der Physiker-«Familie», da es galt, den Kollegen in den Diktaturstaaten zu helfen. Zahlreiche noch in Deutschland lebende Atomforscher fanden damals, ohne auch nur vorher darum gebeten zu haben, plötzlich eine dringende Einladung von Bohr in ihrer Post. «Kommen Sie zu uns», hieß es etwa, «bleiben Sie erst einmal hier und überlegen Sie in Ruhe, wohin Sie sich dann wenden wollen.»
Wer im Herbst 1933 mit dem Nachmittagszug aus Deutschland auf dem Kopenhagener Bahnhof eintraf, wo ihn Mitglieder des Bohrschen Instituts erwarteten und herzlich wie einen Verwandten begrüßten, fand sich, aus der Welt der Parteibefehle und der stummen Angst kommend, wie durch ein Wunder wieder in eine Atmosphäre gegenseitiger Achtung und Freundschaft zurückversetzt.
Bohr fehlten, wie sein Schüler von Weizsäcker es ausgedrückt hat, zwei Eigenschaften, die Schulhäupter sonst meist «auszeichnen»: pädagogisches Talent und Herrschsucht. Es schien seine Würde durchaus nicht zu verletzen, wenn man seine Gedanken entschieden, ja respektlos, kritisierte. Wie ungeniert Meister und Jünger sich in einem von Bohr geleiteten Seminar unterhielten, ist in einer Parodie des «Faust» festgehalten worden, die anfangs der dreißiger Jahre anläßlich des jährlichen, von auswärtigen Bohr-Schülern besuchten September-Seminars gespielt wurde. Selbstverständlich war der «Herr» in diesem Spiel Bohr selbst. Die Rolle des «Mephisto» fiel seinem alten Schüler und unermüdlichen Kritiker Wolfgang Pauli zu. So also hörte sich (in leicht parodistischer Übertreibung) eine Unterhaltung zwischen diesen beiden an:
BOHR(Der Herr):
Hast du mir weiter nichts zu sagen?
Kommst du nur immer anzuklagen?
Ist die Physik dir niemals recht?
PAULI(Mephisto):
Nein, Quatsch! Ich finde sie, wie immer, herzlich schlecht.
Bekümmert sie mich auch in meinen Jammertagen,
Muß ich die Physiker doch immer weiter plagen …
B.(wie immer, wenn er aufgeregt wird, Deutsch und Englisch mischend):
Oh, it is dreadful! In this situation we must remember the essential failure of classical concepts … Muß ich sagen … Just a little remark … Was willst du mit der Masse tun?
P.:
Wieso? Die Masse? Die schafft man ab!
B.:
Das ist ja sehr, sehr interessant! … aber, aber …
Nein, schweig! Halt, Quatsch!
Aber, aber …
Ich verbiete dir zu sprechen!
Aber Pauli, Pauli, wir sind ja viel mehr einig, als du denkst! Of course I quite agree; only … Man kann natürlich die Masse abschaffen, aber die Ladung we must uphold …
Wieso, warum? Nein, nein, das ist Stimmungsmalerei! Warum