1. Der Artful Dodger
Wenn ich mich an meine Kindheit in West London in den 1960ern zurückerinnere, dann muss ich immer an Wellblech denken. An Wellblech und daran, dass gelegentlich mal ein Ford Anglia um die Ecke kurvte. Baustellen und Schutt, so weit das Auge reichte – als ob alles rund um uns dem Untergang geweiht gewesen wäre. Das Wellblech war dabei ein echtes Ärgernis, wenn man darüber hinwegklettern wollte. Es ging uns einfach auf den Sack. Es war zweieinhalb Meter hoch und scharfkantig genug, um Spuren an deinen Händen zu hinterlassen, wenn man sich daran hochzog. Es war fast so, als ob die Bauarbeiter nicht wollten, dass ich auf ihren Baustellen Bulldozer kurzschloss, um ihre Teehütten plattzumachen. Solche rücksichtslosen Wichser.
Auf den gefährlichen Straßen von Shepherd’s Bush begegneten einem damals kaum irgendwelche Filmstars, obwohl sich die Fernsehstudios der BBC ganz in der Nähe befanden. Als nun Jack Wild – jener Junge, der den Artful Dodger inOlivergespielt hatte – eines Tages in den späten 1960ern meine Straße entlangspazierte, musste ich ihn ein wenig genauer beäugen. Ich war ja selbst ein kleiner Artful Dodger, nicht so unähnlich der Filmfigur, die der gute Jack verkörpert hatte. Zwar war ich noch kein richtiger Taschendieb, aber ich hatte schon dem einen oder anderen Fahrrad oder auch brandneuen Modelleisenbahnen aus dem Lagerraum von Hamleys ein neues Zuhause geschenkt. Doch ich sah in Jack kein kriminelles Vorbild. Mich interessierte an ihm, dass er berühmt war. Wenn nun etwa Elsie Tanner ausCoronation Streetdurch mein Viertel flaniert wäre, hätte ich mich genauso gefreut.
Als ein paar andere Kids und ich spitzkriegten, wer er war, begannen wir, ihm zu folgen. Vermutlich war das für sich genommen nicht sonderlich schräg. Eine normale Reaktion eines 13-Jährigen auf ein bekanntes Gesicht aus Film oder Fernsehen. Man wollte ihm so nahe wie möglich kommen, damit vielleicht ein wenig von seiner Magie auf einen selbst übersprang. Aber ich musste alles immer übertreiben. Einer nach dem andern zogen meine Kumpels wieder Leine, aber ich heftete mich ihm weiterhin an die Fersen. Als ob er etwa Peter Pan gewesen wäre. Heute bin ich mir nicht mehr sicher, warum ich das tat. Wahrscheinlich fühlte ich mich einfach stärker als die anderen Jungs von dieser besonderen Aura angezogen, die ihm seine Berühmtheit zu verleihen schien.
Obwohl Jack Wild ein paar Jahre älter als ich war, überragte er mich nicht um sonderlich viel. Er machte auch nicht wirklich was her – er trug jetzt nicht seinen Zylinder oder so. Aber wenn man als eines jener Kids, die sich selbst eingesperrt und ein wenig einsam fühlten, auf jemanden traf, der offenbar alles auf die Reihe gekriegt hatte, dann glaubte man vielleicht, dass das Leben, wenn man sich nur in so jemandes Nähe aufhielt, in Ordnung käme und der Schmerz, der einen erfüllte, endlich nachließe.
Keine Ahnung, was er sich damals dachte, als ich ihm so hinterherschlich. Ich nehme an, dass es ihn ein bisschen verängstigt hat – vor allem angesichts des ganzen Wellblechs, das sich am Straßenrand hinzog. Er hätte da nie im Leben drüber hinwegklettern können, um vor mir zu flüchten.
Damals gehörten meine Kumpels und ich zur ersten Welle von Skinheads. Wir hörten Motown, Ska und Blue Beat und liebten die Musik von Leuten wie Prince Buster, den wir dank der karibischen Kids kannten, die in unserer Gegend wohnten. Wenn Jack sich zu mir umgedreht hätte, um einen Blick auf mich zu riskieren – so ganz nonchalant und ungezwungen eben –, hätte er mich in meinen dunkelroten Doc-Martens samt spacig-durchsichtigen Sohlen hinter ihm her latschen gesehen. Diese Stiefel polierte ich damals wie ein Irrer. Es k