: Tina Pruschmann
: Bittere Wasser
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644014428
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ida ist ein Zirkuskind, ihre Eltern sind Stars im DDR-Staatszirkus, die Mutter am Trapez, der Vater als Elefantendompteur, es gibt sogar eine Briefmarke mit seinem Bild. Zur Einschulung wird das Mädchen nach Tann ins Erzgebirge verschickt, zur Oma, in deren Kneipe die Männer vom Uranbergwerk ihre Extrazuteilungen versaufen, ehe sie früh an radioaktiver Vergiftung, der Schneeberger Krankheit verrecken. Nach der Wende wird die Mine geschlossen, der Zirkus an einen westdeutschen Investor verscherbelt. Die Ehe der Eltern scheitert an Stasigeschichten. Idas Vater hockt in seinem Zirkuswohnwagen im Garten der Großmutter und säuft. Sie selbst folgt der Elefantendame Hollerbusch, die an den Zoo von Kyjiw verkauft wurde ... Der Roman einer Familie und der einer Stadt, die immer eine andere war, in einem Land, das es nicht mehr gibt. Tina Pruschmann erzählt davon wirklichkeitssatt und realitätsnah, und doch klingt die Geschichte von den Bergleuten und Zirkusmenschen immer wieder wie ein schönes und düsteres Märchen.

Tina Pruschmann, geboren 1975 geboren, lebt in Leipzig. Sie hat Soziologie und Soziale Verhaltenswissenschaft studiert. Der Versuch, einen ordentlichen Beruf zu ergreifen, führte sie in Juravorlesungen, an eine Förderschule, in eine psychiatrische Klinik und in das Lehrerzimmer einer Berufsfachschule. 2017 erschien ihr Debütroman Lostage  im Residenz Verlag. Es folgten 2019 der Foto-Interview-Band gottgewol t (mit Marco Warmuth, Fotografie) erschienen im Mitteldeutschen Verlag und 2022 der Roman Bittere Wasser, für den sie 2025 den Lessing-Förderpreis des Landes Sachsen erhält. Im Sommer 2024 war sie im Vorfeld der ostdeutschen Landtagswahlen für das Projekt der Universität Leipzig: Ways across the country: democracy in transforming landscape als eine von drei Überlandschreiberin in den ländlichen Regionen Sachsens unterwegs.

Ein Kind wie ein bunter Mäusespeck


Er ist jetzt Vater. Georg kaut auf diesem Wort herum wie auf Brotrinde. Er sieht das Baby an, das vor ihm auf dem Bett liegt. Es zappelt mit den Beinen, gähnt, verzieht das Gesicht und sieht dabei aus wie Jutta. Wie es nur gekommen ist, fragt sich Georg, dass er für dieses Mädchen, das er doch gerade erst anfängt kennenzulernen und von dem er noch nicht so recht weiß, welches Temperament es hat, was es mag, was nicht, was es zum Lachen bringt, wovor es sich fürchtet, ohne zu zögern alles hingeben würde; sogar sein Leben, sogar das von Jutta.

«Hallo, Ida, mein Mädchen», flüstert Georg.

Das Baby streckt ihm die Arme entgegen. Georg gibt ihr den Tscheburaschka, den er ihr von seiner Gastspielreise aus Odesa mitgebracht hat. Ida nimmt ihn, knetet die großen braunen Ohren, zieht sie hin und her. Georg knöpft den Strampler zu, der grün ist und samtig, öffnet die Cremedose und cremt mit beiden Händen Idas Wangen. Ida schaut, lacht, winkt mit dem Stofftier. Georg hebt sie hoch. Der Tscheburaschka fällt zu Boden. Er legt sich das Kind in die Armbeuge und schaut es an.

«Na, kennst du mich noch? Ist ein bisschen her, sechs Monate. Aber weißt du noch? Im Krankenhaus. Da haben wir uns zum ersten Mal gesehen.»

Georg kitzelt Ida. Sie zieht ihre Beine an und greift nach seinem Zeigefinger. Georg starrt auf ihre Fingernägel, und wie bei allem, was er an dem Kind sieht, braucht er eine Weile, bis er sich das Bild gut genug eingeprägt hat, obwohl das, was er eigentlich behalten will, eine Empfindung ist und kein Bild, aber Georg weiß nicht, wie das geht, sich eine Empfindung einprägen. Von Freunden hat er gehört, dass Babys schnell wachsen, und er weiß schon jetzt, dass er später Sehnsucht nach der Ida aus dem November neunzehnhundertfünfundsiebzig haben wird.

«Ich heiße Georg. Aber du kannst auch Papa zu mir sagen.»

Georg hört Schritte im Flur des Wohnheims, hört die Tür, spürt einen kühlen Luftzug im Rücken. Er wendet sich um. Jutta betritt das Zimmer. Die Herbstluft, die sie hereinträgt, riecht nach aufziehendem Regen.

«Kommt ihr klar?», fragt sie, öffnet den Schrank und zieht ihre Ballettschuhe aus dem unteren Fach.

«Kommst du klar?», erwidert Georg.

«In fünf Monaten geht’s los», singt sie auf eine Edith-Piaf-Melodie, gibt Ida einen Kuss auf die Stirn und wirft sich den Mantel über.

«À Paris …», Jutta zieht summend die Tür hinter sich ins Schloss, und Georg hört ihren Schritten nach.

«Was meinst du, Idalein?», sagt er und wendet sich dem Kind zu. «Wir kommen so was von klar.»

Ida gluckst. Georg geht mit ihr in dem Zimmer umher, das in der oberen Etage eines zweigeschossigen Neubaus liegt. Zwei Zimmer, Küche, Bad bedeuten im Winterquartier des Zirkus Dusche, Klo und Frühstücksküche auf dem Flur, Klubraum im Gemeinschaftshaus nebenan und diese zwanzig Quadratmeter nur für sich, die im Vergleich zu ihrem Tourneewohnwagen fast geräumig sind. Sein Blick fällt auf den roten Flokati vor dem Bett, das Spitzendeckchen auf dem Nachtschrank und die Lampe mit dem gedrechselten Fuß und den goldenen Kordeln. Jutta scheint seit Neustem den nomadischen Alltag ihres Lebens etwas dimmen zu wollen. Bevor Ida auf die Welt kam, reichte ihr, was die Standardmöblierung an Gemütlichkeit hergab. Ida patscht ihre Hand auf die Dinge, die da sind, und Georg erklärt ihr, wie das heißt, was sie fühlt. Das Fensterglas ist kalt und glatt, die abblätternde Farbe des alten Holzstuhls rau und kantig, das rote Kissen auf dem Stuhl grob und kratzig, Juttas Schal am Garderobenhaken warm und weich, die dünne Plastiktischdecke auf dem Klapptisch zäh und klebrig, und sie knistert, wenn man sie schiebt und zieht. Georg spürt die Schwere und die Wärme des kleinen Körpers, sieht, wie sich ihr Brustkorb bewegt, und er legt seine Hand auf Idas Kopf. Ida wird still und schaut ihm in die Augen.